Christoph Hesse

Film, Politik, Avantgarde

"In der Epoche ihrer Auflösung ist die Kunst, als negative Bewegung, (...) eine Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung. Je grandioser ihr Anspruch ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung jenseits von ihr. Diese Kunst ist notwendig Avantgarde, und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden." Guy Debord

I.

Als Eisensteins Potemkin vor fünfundsiebzig Jahren um die Welt ging, machte sich Begeisterung und Entsetzen breit. Das bürgerlich-konservative Publikum gab sich entrüstet ob der neuen Avantgardekunst, welche die traditionelle Kunstauffassung ebenso wie die noch junge Ästhetik des Kinos herausforderte (beispielhaft hier die Auseinandersetzung zwischen Oscar A.H. Schmitz und Walter Benjamin [1]). Als kurz darauf Buñuels L’Age d’Or im Studio 28 in Paris aufgeführt wurde, kam es zu handfesten Ausschreitungen: Der Film wurde verboten, Kopien beschlagnahmt, der Kinosaal von aufgebrachten Kulturbürgern zerstört. Der Figaro warnte: "Das Vaterland, die Familie, die Religion werden durch den Dreck gezogen (...) Es handelt sich um einen Versuch von Bolschewismus besonderer Art, ja wirklich spezieller Art, der darauf abzielt, uns zu verderben." [2] Dreißig Jahre später zeigte man Godards Vent d’Est in einer Mitternachtsvorstellung auf dem Festival in Cannes. Der Großteil der Anwesenden verabscheute den Film. Weitere dreißig Jahre später erfreut man sich gleichenorts des Immergleichen, das kein Ende mehr kennt.

Sollte man in Anbetracht dieser Beispiele (die sich beliebig ergänzen lassen) zu dem Schluß kommen, das Gelingen eines avantgardistischen Films hänge davon ab, in welchem Maße er die Verachtung der offiziellen Kultur auf sich zieht? In gewisser Weise trifft das zu. Mehr noch als Denunziation, Verbot und Vergessenheit könnte es einen avantgardistischen Film entwerten, wenn er Platz findet im Pantheon der Kulturgüter; wenn man von Eisenstein, Buñuel oder Godard mit der gleichen Expertise spricht, wie man es von Griffith, Hitchcock oder neuerdings auch Riefenstahl tut. Es scheint, als gebe es kein Gelingen der Avantgarde, das nicht zugleich deren Gelingen verhindern würde. Gleich woran man sie emphatisch mißt: Qualität, Erfolg, Innovation, Revolution, ist sie darin zugleich zum Scheitern verurteilt. Gelingen und Versagen sind Momente eines unablösbarenen Zusammenhangs, dem sich der avantgardistische Film drastischer als jede in dieser Hinsicht anspruchslose Filmproduktion ausliefert. Ist er gescheitert, wenn seine formalen Verfahren prägenden Einfluß nehmen auf eine Reihe von Filmen, die, indem sie sich derer bedienen, den Kanon des etablierten Betriebs um ein paar ansehnliche Finessen erweitern, und also gelungen, wenn er sich als ganz und gar unbrauchbar erweist für jede ’Refetischisierung’, oder genau umgekehrt?

Zu den wenigen gegenwärtigen Gewißheiten zählt, daß nichts, was in diesem Kontext der Erwähnung bedürfte, dem kulturindustriellen Verwertungsdrang so vollständig sich entziehen könnte, daß es mit ästhetisch-politischem Ernst in einem Außerhalb anzusiedeln wäre. Zugleich aber gibt es keine Formen, die andersherum so vollständig in den Betrieb integriert werden könnten, daß sie rückstandslos darin aufgingen. Bis in ihre filmische Sprache hinein sind die Filmavantgarden, die doch immer auch ’Massen’ bewegen wollten, als eine Art Absetzungsbewegung vom reglementierten Code der Massenkommunikation erkennbar. Gerade dort, wo sie besonders erzählerisch wirken, kommt das zum Ausdruck. Avantgarde ist nicht einfach Negation dessen, was einmal Andrè Bazin zum non plus ultra des filmsprachlichen Realismus erklärt hat. Selbst in ihren auf den ersten Blick entlegenen Weisen der Darstellung und Erzählung kokettiert sie mit den hergebrachten Idiomen des filmischen Ausdrucks. Am besonderen Beispiel einer politisch genannten Filmavantgarde zeigt sich, warum in dieser nur scheinbaren Kompromißbildung ihre ästhetische Radikalität besteht. Nach einer Bemerkung Adornos läuft das radikal Moderne der Kunst stets Gefahr, auf das Tapetenmuster in der Hotel-Lobby herunterzukommen. Hält man etwa Warhols Empire State Building gegen den Wochenendausflug von Roland und Corinne in Godards Week-end, wird etwas vom konstitutiven Widerspruch der Avantgarde greifbar. Nichtidentität, wenn man so will, ist für die Avantgarde nicht ohne ein notwendiges Moment von Identität zu haben. Das ist einer ihrer zentralen ästhetisch-politischen Reibungspunkte; ein Pol, von dem sie sich immer wieder abstößt hin zu einem Anderen, mit dessen Erreichen sie als Avantgarde womöglich hinfällig wäre. Es gibt kein vorgeschriebenes Gelingen der Avantgarde, das einem eschatologischen Prinzip gleichkäme. Doch lohnt sich allemal die Frage, was wir bis heute an bestimmten Filmen als das avantgardistische Moment ausmachen und wie sich ein solches in einem zunächst vergleichsweise trivialen Ausdrucksmedium wie dem Film artikuliert.

II.

Der Begriff der avant-garde bereits hat, so er sie je für sich in Anspruch nehmen konnte und wollte, alle Selbstverständlichkeit eingebüßt. Die Avantgarde gibt es nicht. Ob eine so bezeichnete künstlerische Bewegung als einheitliches Projekt, als eindeutig identifizierbare und von den übrigen ästhetischen Praxen sich klar abgrenzende ’Kunstrichtung’ je bestanden hat, muß bezweifelt werden. Feststeht bloß, daß, was gemeinhin mit dem Namen Avantgarde versehen wird, längst und unwiderruflich zum legitimen Kulturerbe der bürgerlichen Gesellschaft zählt, aus deren institutionellen Zwängen sie einmal ausbrechen wollte.

Interessanter, als den Kanon aus verschiedenen Richtungen, Künstlern und Werken der Avantgarde abzurufen, scheint mir zunächst, den theoretischen Horizont abzustecken, worunter sie sich wie unter einem unverabredeten Minimalkonsens versammeln lassen. Peter Bürger hat in seiner Theorie der Avantgarde die historischen Avantgardebewegungen des ersten Drittels des zwanzigsten Jahrhunderts in zweifacher Weise gekennzeichnet: einmal bezüglich ihres eigenen kunst- und sozialgeschichtlichen Bewußtseins, das sich auch, aber nicht erst in Manifesten, sondern bereits in der avancierten Durchbildung der Werke selbst, ebenso in deren mitunter spektakulären Darbietungsformen zeigt; zum anderen hinsichtlich ihrer Stellung zur Gesellschaft und inbesondere zur Institution Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft.

Seine erste These, "daß erst die Avantgarde bestimmte allgemeine Kategorien des Kunstwerks in ihrer Allgemeinheit erkennbar macht, daß mithin von der Avantgarde aus die voraufgegangenen Stadien des Phänomens Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden können, nicht aber umgekehrt die Avantgarde von den früheren Stadien der Kunst her" [3], benennt im Kern das historische Selbstbewußtsein der Avantgarde. Damit ist nicht zugleich unterstellt, "daß alle Kategorien des Kunstwerks erst in der avantgardistischen Kunst zu voller Entfaltung kommen". Doch macht die Avantgarde "die Kunstmittel in ihrer Allgemeinheit erkennbar, weil sie die Kunstmittel nicht mehr nach einem Stilprinzip auswählt, sondern über sie als Kunstmittel verfügt." [4] Marx, auf den sich Bürger hier bezieht, hat in den Grundrissen am Beispiel der Kategorie Arbeit aufgewiesen, daß die "Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Art der Arbeit eine sehr entwickelte Totalität wirklicher Arbeitsarten voraus(-setzt), von denen keine mehr die alles beherrschende ist. So entstehn die allgemeinsten Abstraktionen überhaupt nur bei der reichsten konkreten Entwicklung, wo eines vielen gemeinsam erscheint, allen gemein. Dann hört es auf, nur in besondrer Form gedacht werden zu können." [5] So wie erst die entwickelte kapitalistische Produktionsweise - eine Gesellschaftsformation, in der Arbeit zum abstrakt-wertsetzenden Prinzip universalisiert ist - einen allgemeinen Begriff von Arbeit erlaubt, so stellt erst die Emanzipation der Kunst vom stilistischen Prinzip einen emphatisch allgemeinen Begriff von Kunst bereit. In den großen Ästhetiken von der antiken bis hin zur bürgerlichen Klassik bleibt die Kunst, kurz gesagt, ein normativ Vorgestelltes, ein Wesenskanon zum Lobe eines Höheren. In der Avantgarde ist sie das Bewußtsein ihrer eigenen Möglichkeit. Von hier aus ist kein Blick auf die Geschichte der Kunst mehr möglich, der nicht auch ein spezifisch moderner, ein durch die Avantgarde hindurch gehender ist.

Der Ausbruch aus den stilistischen Restriktionen der Kunst zeitigt überdies eine weitere, noch radikalere Konsequenz: "Mit den historischen Avantgardebewegungen", so Bürgers zweite These, "tritt das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein." Und diese meint nicht bloß die "Kritik an (...) vorausgegangenen Kunstrichtungen, sondern an der Institution Kunst, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft herausgebildet hat." [6] Gegen ihre gesellschaftliche Institutionalisierung, gegen sowohl die Produktionsformen wie den Distributionsapparat, die beide die Kunst zur gesellschaftlichen Sparte degradieren, richtet sich der avantgardistische Protest mit der überschwenglichen Forderung, die Kunst in Lebenspraxis aufzulösen. Erst im Stadium der Selbstkritik offenbart sich die Totalität des Entwicklungsprozesses der Kunst und "wird die fortschreitende Herauslösung der Kunst aus lebenspraktischen Kontexten und die damit einhergehende Herausdifferenzierung eines besonderen Bereichs der Erfahrung (eben der ästhetischen) als Entwicklungsprinzip der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft erkennbar." [7] Die kapitalistische Produktionsweise hat die künstlerische Produktion, getreu der blind-arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft, zum Gewerbe unter anderen verdammt und deren Werke, wie allen gesellschaftlich produzierten Reichtum, in Waren verwandelt. Die Leidenschaftslosigkeit, die der Verkäufer der Ware dem besonderen Inhalt seines Produkts entgegenbringt, an dessen zu realisierendem Tauschwert er einzig interessiert ist, befällt die Kunst gerade so wie jeden anderen Warenmarkt. Sie ist so frei wie alles im Tausch. Der schöne Schein, der sie sein sollte, ist der Schein der Zirkulation, in der nach Marx Freiheit, Gleichheit und Bentham herrschen. Das Gesetz der Zirkulation: für anderes da zu sein, gilt seither auch in der Produktion der Kunst. So steht die Avantgarde vor dem Paradoxon, daß mit der Autonomie, der Absage an den theologischen Auftrag, die Kunst ihre neu gewonnene Freiheit mit Integration bezahlt und ihre so vollzogene Institutionalisierung sie um den Gehalt bringt, der sie erst Kunst sein läßt.

In dieser Situation ist die Avantgarde Einspruch gegen sowohl die marktförmige Zurichtung des Ästhetischen wie den darauf folgenden Rückzug der Kunst aus der Gesellschaft. (Die Komplizität von Kulturindustrie und Kunstgewerbe, die später für eine filmisch-politische Avantgarde als negative Bestimmung prägend sein wird, ist hier bereits vorgezeichnet.) Die Tendenz etwa des Symbolismus, alles Kunstfremde aus der Kunst auszusondern, hat als solche noch wenig mit einer gesellschaftlichen Selbstreflexion zu tun. Vielmehr will ja gerade das von der Gesellschaft abgewandte, hypostasierte Kunstwerk seine gesellschaftlichen Spuren verleugnen. Doch ist es sicherlich nicht aus Verlegenheit geboren, daß die Avantgarde gerade aus diesem Ästhetizismus hervortritt. Sie entwickelt erst ein kritisches Selbstbewußtsein der Kunst, indem sie das auf sich selbst fixierte Ästhetische, die scheinbar reine Form, über sich hinaustreibt mit dem Ziel, die Kunst selbst als zugestandenen Bereich zu übertreten und so womöglich deren institutionell verfestigte Wirkungslosigkeit zu überwinden: "Das Zusammenfallen von Institution und Gehalten enthüllt die gesellschaftliche Funktionslosigkeit als Wesen der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft und fordert damit die Selbstkritik der Kunst heraus. Es ist das Verdienst der historischen Avantgardebewegungen, diese Selbstkritik praktisch geleistet zu haben." [8]

Daß diese nicht dahin geführt hat, die Kunst tatsächlich in Lebenspraxis aufzulösen, besagt als Einwand noch wenig gegen die Avantgarde, geschweige gegen deren theoretisches und praktisches Vermächtnis. Hat auch, wie Adorno zu Beginn der Ästhetischen Theorie sagt, "das Meer des nie Geahnten, auf das die revolutionären Kunstbewegungen um 1910 sich hinauswagten, nicht das verhießene abenteuerliche Glück beschieden", sondern stattdessen "der damals ausgelöste Prozeß die Kategorien angefressen, in deren Namen er begonnen wurde" [9], so verdankt sich ihnen doch die Entwicklung eines Selbstbewußtseins der Kunst als gesellschaftlicher Praxis, ohne das eine künstlerische Moderne vermutlich nicht einmal zu denken wäre. Davon hat bis in die jüngere Zeit nicht zuletzt auch eine filmische Avantgarde gezehrt, die nach dem Niedergang des historischen Projekts an der Idee der Avantgarde nicht unverändert zwar, aber ungebrochen festhielt.

III.

Wie sich der Film, ein Zirkusmedium vom Tag seiner Geburt, zu Fragen avantgardistischer Kunst verhalten soll, mag auf den ersten Blick nicht so recht einleuchten. Die Eindrücke, die er bei seinen ersten Zuschauern hinterließ, klingen uns heute zunächst nach Kindheitsphantasien mehr denn nach einer ausgeprägten Kunstauffassung. In der Tat reicht das überzeugend Triviale des Films von frühen Burlesken bis in avancierte Filmwerke hinein, ähnlich wie etwa umgangsprachlicher Witz in großer Literatur zu finden ist. Aber zugleich bringt der Film im Laufe seiner eigenen Kindheit eine nichttriviale Struktur hervor, die ihn als künstlerische Sprache vom Flickern der Bilder als einem bloß technischen Reproduktionsverfahren abhebt (wenngleich natürlich eine Ästhetik des Films unter Absehung seiner apparativen Ermöglichungsbedingungen nicht sinnvoll konzipiert werden kann). Spätestens seit den zehner Jahren kennt man einen eigenständigen filmischen Ausdruck, der so etwas wie eine Sprache des Films konstituiert. Hier wird die Kinematographie, als Aufzeichnungstechnik, zum Kino; das fait filmique, nach einem Ausdruck von Gilbert Cohen-Sèat, beginnt sich vom fait cinèmatographique zu lösen, ähnlich wie sich von der Sprache als Medium der Verständigung durch künstlerisch-expressiven Gebrauch der Rede der literarische Vortrag emanzipiert hat. Kaum einem der frühen Theoretiker des Kinos, die nicht zufällig seit dieser Zeit auf den Plan treten, ist diese nichttriviale, später sagte man: strukturale Dimension des Films entgangen. Lange bevor in den sechziger Jahren systematische Anstrengungen zu einer Semiologie des Films unternommen wurden, hat man dessen Besonderheit gegenüber den traditionellen Kunstgattungen immer auch in den Kategorien von Sprache zu bestimmen versucht. Ist auch die Bezeichnung Sprache, insofern darin der linguistische Modellcharakter zum Ausdruck kommt, in der Filmtheorie zu Recht umstritten, mag sie hier genügen als Hinweis darauf, daß der Film als künstlerisches Kommunikationssytem mehr ist als etwa seine technische Basis.

"Was ist es, was die Kamera nicht reproduziert, sondern selber schafft?", fragt Bèla Balázs. "Wodurch wird der Film zu einer besonderen Sprache? - Durch die Großaufnahme. Durch die Einstellung. Durch die Montage." [10] Einmal abgesehen von Balázs’ besonderer Hervorhebung der Großaufnahme bleiben Einstellung und Montage, Bild und Verknüpfung. Hierin liegt die sprachliche, d.h. zunächst syntaktische Qualität des Films sozusagen kinetisch begründet. Das Prinzip der Bewegung gilt auf der Ebene der Einstellung, der Bewegung der Gegenstände im Bildraum bzw. der Kamerabewegung, sowohl wie auf der der Montage, die eine Einstellung gegen die andere fortbewegt. Eine Fotografie, heißt es bei Roland Barthes, hat als solche keine Bedeutung, die über ihr Denotat, z.B. den fotografierten Baum, hinausgeht. (Woher sie als Fotografie dennoch ihre Konnotation bezieht, interessiert uns hier nicht weiter.) Habe ich hingegen eine Fotosequenz vor mir, ist diese immer schon reichhaltig konnotiert. Der Konnotationssignifikant, wie Barthes das nennt, befindet sich dabei auf der Ebene der suprasegmentalen Verkettung. [11] Mit anderen Worten: Die Bewegung, die den Film bereits technisch von seinem Vorläufermedium unterscheidet, eröffnet als solche spezifische Bedeutungsebenen, die den Film als ’sprachliches’ Ausdrucksmedium über die Fotografie hinaus.

Die Frage, ob und inwieweit der Film eine Sprache ist - zwar nicht die linguistischen Kriterien vollauf erfüllt, aber auch ohne vorgeordnetes Sprachsystem ein syntaktisches Gefüge aufweist -, mag sich auf diesem Weg aus der technischen Struktur, dem kinetischen Prinzip (das immerhin dem Kino seinen Namen gegeben hat), begründen lassen; ebenso ein Stückweit seine Tendenz zur Narrativität allgemein. Die Frage allerdings, warum der uns bekannte Film ein so beschaffenes Regiment von Codes mit sich führt, folgt keinem vorgeordneten Determinismus. Daß wir z.B. zwischen alternierender und konvergierender Montage unterscheiden, von einer gleichsam organischen Anordnung in Komposition und Montage ausgehen (uns etwa an die sog. dècoupage classique gewöhnt haben), ja vieles von dem, was die frühen Kinozuschauer als Schocks verarbeiten mußten, mit apriorischer Sicherheit vorausbestimmen können, liegt jenseits von Aufnahme und Entwicklung, Schnitt und Projektionsapparatur. Die Semiotik stellt dafür den einigermaßen verlegenen Begriff Konvention bereit. Wie weit er tatsächlich trägt, soll uns hier nicht weiter aufhalten. Es genügt zu wissen, daß filmische Verfahren - über die Feststellung hinaus, es handele sich um montierte Einstellungen und Toneinspielungen - eben Verfahren sind: ästhetische Artikulationen, die für sich keine naturwüchsige Geltung beanspruchen können. Genau diese scheinbar banale Einsicht aber ist es, die der Film seinem Publikum systematisch vorenthält. Selbst Theoretiker des Films, die nicht nur Filme sehen und hören, sondern um Begriffe ihres Gegenstands bemüht sind, sind dessen produziertem Schein aufgesessen. An prominenter Stelle hat Bazin die Veränderungen des filmsprachlichen Ausdrucks vom expressionistischen bzw. formalistischen Stummfilm der zwanziger hin zum, wie er sagt, realistischen Tonfilm der dreißiger Jahre zu einer Entwicklungslogik ontologisiert, die den Film seiner realistischen Bestimmung entgegenführen sollte. [12] Den vorläufigen Gipfel habe jene im italienischen Neorealismus der Nachkriegsjahre erreicht. Hegels Direktive, was ist, sei, weil es eben ist, sich also geschichtlich durchgesetzt habe, schon vernünftig, wird hier zum tautologischen Prinzip von Filmtheorie. Die Einsicht in die fotografische, in gewissem Sinn realistische Substanz des Films, die Bazin vorträgt, wird aufgespreizt zur zwingenden Qualität überhaupt, über das analogische Moment der fotografischen Reproduktion hinaus bis in Narration und Dramaturgie. Die Institution Kino, die Bedingungen der Produktion und Rezeption von Filmen, werden herausgestrichen und der beibehaltene Rest, das irgendwie Ästhetische, zum Wesentlichen erklärt und immanent rationalisiert. Was hier theoretisch artikuliert wird, entspricht der spontanen Ideologie des Publikums, das auf Gedeih und Verderb glauben will, was es sieht.

Ein solcher Realismus, als Erwartungshaltung, ist nicht in erster Linie einer der Gegenstände - gleich ob Menschen, Monster oder Ufos vorkommen -, sondern einer der Form. Diese, die sich aus Gründen, die nicht benannt werden können, durchgesetzt hat, soll bereits deshalb dem Film adäquat sein. Dessen geschichtliche Sprache jedoch, die wir oberflächlich (und fälschlicherweise) Erzählkino nennen, ist weder ein ästhetisch selbstbegründetes noch naturwüchsiges Verfahren im Sinne der adäquaten Anwendung filmischer Technik. Der Film als künstlerisches Ereignis ist stärker noch als alle vergleichsweise autonome Kunst Teil eines gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses, das im arbeitsteilig-hierarchischen Produktionsprozeß nicht weniger als in den Verfahren filmischer Darstellung seinen Niederschlag findet. Die Sprache des Film ist zu einem Teil Ausdruck seiner technischen Bedingungen, die der technologischen Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Gesellschaft zuzurechnen und aus dem Resultat Film heraus nicht selbst zu begründen sind; zu einem anderen Teil ein geschichtlicher Zug des Systems Films selbst: ein umkämpftes ästhetisches Terrain, auf dem ein besonderes Verfahren allgemein wird, nicht weil es Anspruch auf Wesenseinheit mit dem Medium anmelden kann, sondern weil es sich unter bestimmten ästhetischen und gesellschaftlichen Bedingungen durchsetzt.

Wenn der heute vorherrschende Typus Kino in mancher Hinsicht dem eines David Griffith von 1915 erschreckend ähnlich sieht, sind zwei Schlußfolgerungen möglich: Entweder ist das maßgeblich von Griffith entwickelte ’organische’ Erzählverfahren wesensgleich mit Kino schlechthin (dann hätte so etwas wie eine Avantgarde immer schon verloren), oder aber die Gesellschaft im Jahr 2000 hängt immer noch praktisch einer Vorstellung von Kino an, von der aus eher die Gesellschaft in Frage zu stellen wäre. In diesem Fall haben wir es mit einem zwar beharrlichen, aber dennoch geschichtlichen Kino zu tun, das vielleicht eben deswegen sich und die es hervorbringende Gesellschaft als Mythos der Geschichte enthebt. Fast möchte man heute Bazins Ausspruch glauben, der Film sei nicht aus der Filmtechnik entsprungen, sondern aus dem Geiste der Menschen, die ihn gleich einer platonischen Idee immer schon gehabt hätten.

IV.

Der avantgardistische Film, den wir im Blick haben, entzieht sich solcher Spekulation. Er bewegt sich in doppelter Hinsicht auf dem Boden der Praxis: Als ästhetische Veranstaltung kritisiert er die Reglementierungen, Kodifikationen und Bilderverbote des Films; als politisches Ereignis bekämpft er die Institution, die von den kritisierten Bildern nicht zu trennen ist. Man könnte ihn so als immanent praktische Kritik des Films auffassen. Ohne die Entwicklung einerseits der Filmsprache zum ideologischen Bollwerk eines fragwürdigen Realismus, zur friedlichen Koexistenz von Bildern und Tönen, andererseits des kulturindustriellen Markt- und Staatsapparats sind die Bemühungen der Filmavantgardisten kaum angemessen zu begreifen. Beide oben angesprochenen Ebenen, Produktion und Verfahren, stehen zur Diskussion.Wie die historische Avantgarde auch, kämpft die Filmavantgarde um die ästhetischen Produktionsmittel, über die sie jenseits eines geschichtlich erstarrten Stilprinzips verfügen will, und zugleich gegen die Institution Kino, die jenes Prinzip systematisch hervorbringt und mit kommerziellem Interesse verwaltet. Die Institution ist dabei nicht als Orwellscher Sicherheitsstaat mißzuverstehen, sondern als ideologischer Zusammenhang, worin die Beteiligten dieser Verhältnisse selbst die Produzenten ihrer Vorstellungen sind. Wie wenig das herrschende Kino von seinen demokratischen Anhängern in Frage gestellt wird, zeigt nicht zuletzt das umwerfende Einverständnis der nachrückenden Filmemacher und Filmschreiber der Branche.

Um sich so etwas wie politische Avantgarde vor Augen führen zu können, bietet sich eine Unterscheidung an, die Peter Wollen in seinem Aufsatz ’The Two Avant-Gardes’ getroffen hat. [13] Sie mag vereinfachend, aber allemal hilfreich sein. Für die sechziger und siebziger Jahre unterscheidet er zwei Avantgarden, die sich historisch bis in die zwanziger Jahre zurückverfolgen lassen. So wie er hier eine politische Avantgarde in der Sowjetunion einer künstlerischen (wenn man will: ästhetizistischen) in Frankreich gegenüberstellt, setzt er dort das politisch radikale Kino in Westeuropa den Filmkooperativen in v.a. England und den USA entgegen. Zusammenfassend geht es darum, avancierte ästhetische Verfahren überhaupt von konventionellen abzugrenzen und hier wiederum diejenigen hervorzuheben, die jene Formintervention dezidiert politisch artikulieren, indem sie das Verhältnis von ästhetischer Form und gesellschaftlicher Herrschaft herauszustellen versuchen. Ein politisches Kino, das auf Grundlage eines überlieferten Formkanons politische Gegenstände in diesem Sinn unpolitisch verarbeitet, kommt außer Betracht. Ein politisch-avantgardistischer Film ist hierin zunächst mehr Avantgarde als Politik. Ihm geht es darum, wie Godard sagt, nicht politische Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen, d.h. die Ebene anzugreifen, die überhaupt erst Film konstituiert. Ein Film ist primär Form, nicht fotografisch reproduzierter Gegenstand. Dieser selbst wird erst ästhetischer Gegenstand durch Form, und genau diese besondere Formgebung steht im Interesse der politischen Filmavantgardisten. Das scheinbar ’unpolitische’ Werk des jungen Godard läßt sich so bereits als immanente Kritik des bis dahin vorherrschenden amerikanischen Genrekinos (aber auch der eingeschlafenen französischen Filmtradition) lesen. Anders das Kino in der radikalen Phase seit etwa 1967, als sich Godard vollends vom Einfluß der Nouvelle Vague verabschiedet hat und essayistische Konzepte eines politischen Sprechens über Film entwickelt. Bis in die abwegigsten maoistischen Motive, die in jener Zeit die Runde machen, bleibt das Politische in erster Linie ein über den Film vermitteltes. Das Problem besteht nicht allein darin, gesellschaftliche Handlungsoptionen filmisch zu diskutieren, sondern die Möglichkeiten des Films selbst, mit seinen Ausdrucksmitteln politisch zu argumentieren, stehen im Vordergrund.

Anders als der frühsowjetische Revolutionsfilm bewegt sich die Filmavantgarde der Neuen Linken in Frankreich, Italien oder Westberlin auf feindlichem Gebiet. Sie hat keine sie umgebende Revolution zu feiern, sondern eine zu machen. Das bestimmt von vornherein ihren ästhetisch-politischen ’Text’. Die von ihr entwickelten Codes sind welche im Vollzug; "un film en train de se faire", wie es in La Chinoise heißt. Der politische Code, wie man ihn nennen könnte, hat sich gegenüber den Bestrebungen der zwanziger Jahre weitgehend formalisiert. Das heißt nicht, er sei somit leer, weil ohne irgendeinen davon zu unterscheidenden Inhalt, sondern er kehrt als Form seine gesellschaftliche Bedeutung hervor, die konventionelle Filmwerke systematisch unterdrücken. In seinen besten Momenten ist der politisch-avantgardistische Film agitatorisch im Negativen. Seine radikalsten Vorstöße, die sich darum nicht mit zeitgeschichtlichen Entschuldigungen abfertigen lassen, sind nicht zufällig jene, die ans Herrschaftsgefüge einer bis heute gültigen Bilderproduktion rühren. Vietnam und Mao waren 68, die Nötigung, richtige Bilder gegen falsche Verhältnisse zu produzieren, dauert fort.

Daß heute Bilder dieser Art nicht mehr anstehen, ist zunächst sehr banal darauf zurückzuführen, daß sie niemand macht und niemand sehen will. Chris Marker hat in Le Fond de l’Air Est Rouge Nachrichtenbilder und Interviews montiert, die gewissermaßen den außerfilmischen Bezug der filmisch-politischen Avantgarde am Ausgang der sechziger Jahre herstellen: Generalstreik, Studentenrevolte, Teach-In’s, Massendemonstrationen, Barrikaden. Stärker als für die amerikanischen Science Fiction-Filme der Fünfziger eine universelle antikommunistische Zwangsneurose verantwortlich war, spielen die sozialen Bewegungen im Zuge der weltweiten gesellschaftlichen Umbruchsituation der sechziger Jahre in die Filmproduktion, allen voran in die der politischen Avantgarde hinein. Der verbreitete Vorwurf, das radikale politische Kino sei deshalb edukatorisch, weil es den Zuschauer bevormunde, könnte kaum weiter daneben gehen. Im Gegenteil wird in dieser unabgeschlossenen Filmform überhaupt erst der Zuschauer als gleichberechtigter Teilhaber zugelassen. Dieser ist nicht mehr Außenstehender eines verriegelten fiktionalen Raums, sondern Adressat einer kritischen Auseinandersetzung über das Kino und die bürgerliche Gesellschaft. Praktisch, und hierin liegt die vielfach ignorierte Schwierigkeit einer Ästhetik des avantgardistischen Films, bedarf es dazu - neben natürlich den Produzenten der Filme - eines konkreten, gesellschaftlich und kulturell sensibilisierten Publikums, nicht bloß einer hypothetischen Variable, die dem filmischen Ereignis anzuhängen wäre. Aus dieser Perspektive kann über den politischen Charakter eines Films nicht mehr allgemein, sondern nur in Anbetracht einer historisch und gesellschaftlich konkreten Produktions- und Rezeptionssituation gesprochen werden.

In Tscheloweks kinoapparatom (’Der Mann mit der Kamera’) proklamierte Dziga Vertov im Jahr 1929 die Entwicklung einer internationalen Filmsprache, die, da sie auf schriftsprachliche Vermittlungen und inszenatorische Eingriffe verzichte, jedem verständlich sei. Heute indessen stößt die Sprache dieses Films auf den Analphabetismus einer Kundschaft, die als kommunizierbare Filmsprache einzig gelten läßt, was dem Formkanon der von Vertov verpönten "bourgeoisen Märchenszenarien" [14] entspricht. Es bedürfte wohl nicht einmal mehr einer vergleichbar rigorosen Filmkonstruktion, um mehrheitlich Befremden, Desinteresse oder Abscheu hervorzurufen. Die Menschen gehen immer noch (oder wieder) ins Kino wie die kleinen Ladenmädchen, die Siegfried Kracauer in den zwanziger Jahren beschrieben hat, und berauschen sich mit gleicher Rührung am Untergang der Titanic und an der Vernichtung der europäischen Juden. Ökonomie und Moral spielen sich zu. Wenn in der Branche von den ungeheuren Freiheiten und Möglichkeiten des Films die Rede ist - man denke aktuell nur an die Herausforderung digitaler Technologien an die filmische Realitätsillusion -, bleibt daran soviel wahr, daß, was legitimerweise als Film gilt, sein je technisches Vermögen im Rahmen der gegebenen Produktionsverhältnisse zu deren Zwecken ausspielt. Es sind nicht die technischen oder allgemein ästhetischen Möglichkeiten selbst, die einer avancierten Filmsprache im Weg stünden, sondern eine auf abrechenbare Ziele ausgerichtete filmische Gegenwart, die bestimmte Filmformen stillschweigend ausschließt.

Als die filmisch-politische Avantgarde der sechziger und siebziger Jahre stattfand, trat sie in zweifacher Hinsicht in ein Loch: politisch in die Umbruchsituation in den entwickelten Ländern des fordistischen Kapitalismus, begleitet von den Revolutionen in der sog. Dritten Welt; filmisch in die andauernde Krise Hollywoods, die ästhetische Alternativen geradezu provozierte (seit immerhin den fünfziger Jahren war das europäische Autorenkino in vollem Gang). Die avantgardistische Filmproduktion, getragen von einem politischen Bewegungsoptimismus, stand praktisch vor einer Vielzahl ästhetischer Herausforderungen, die sie häufig auch durch den etablierten Betrieb hindurch realisieren konnte. Das hat sich, seit die Krise permanent und selbst institutionalisiert worden ist, drastisch geändert. Produziert wird nurmehr, was unterhält, und das wiederum bestimmt der Markt als Ort bewußtloser Willensbildung. Unterhaltungskultur, als ein sicherlich unzureichender Begriff, hat dabei primär nichts mit Unterhaltung im emphatischen Sinne zu tun, sondern zunächst mit Anpassung als Vergesellschaftungsmodus, der als Unterhaltung funktioniert. Der Diskurs der politischen Krisenverwaltung - man denke in diesem Zusammenhang nur an die Schlagworte Individualisierung, Privatisierung, Verantwortung, Innovation, Flexibilität, Leistung usw. - ragt tief hinein in die kulturelle Bedürfnisstruktur und produziert nicht nur widersprüchliche Identitäten, die sich ihrer Identität umso rabiater versichern, sondern verunmöglicht tendenziell, zumindest zur Zeit, auch ein kritisches Hervortreten dieser Widersprüche. Eine Kunst, die das vermöchte, ist marginalisiert oder versperrt. Insofern ist die Rede vom ’anything goes’ als zynische Bestandsaufnahme berechtigt. Geht man davon aus, daß die Mythen der Unterhaltung die Wünsche und Bedürfnisse der Beteiligten mit den sachlichen Herrschaftsverhältnissen in Deckung bringen, bemißt sich die Möglichkeit avantgardistischer Praxis nicht zuletzt auch am allgemeinen Verhältnis von regressiver Tendenz und reflexivem Potential, von Reichweite der Unterhaltungskultur und alternativen politischen und ästhetischen Handlungsspielräumen.

Ähnlich wie die künstlerischen Avantgardebewegungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gilt für die filmisch-politische Avantgarde jüngeren Datums, daß sie einen bis heute unabgeschlossenen Horizont eröffnet hat, der, so unmöglich es aktuell auch erscheint, die grundsätzliche Möglichkeit avantgardistischer Filmpraxis hartnäckig behauptet. Dagegen spricht zunächst sicher nicht, daß auch die besten Bilder ihren Zeitkern haben und ihre Wirkungen sich abnutzen. "Ich kann nicht in allen meinen Filmen durchtrennte Augen und Hände mit Ameisen zeigen" [15], hat Buñuel einmal lakonisch in einem Gespräch geäußert. Wie die Bilder einer Avantgarde heute aussehen könnten, wäre denn auch weniger positiv aus den vorausgegangenen abzuleiten, als vielmehr negativ gegen die zeitgenössischen Filmverhältnisse zu bestimmen. Brechts Satz, es sei besser, an das schlechte Neue denn an das gute Alte anzuknüpfen, bleibt als Anweisung an die Praxis gültig. Solange sich allerdings niemand im Besitz der filmischen Produktionsmittel findet, der das schlechte Neue als solches erkennt, ist die notwendige Erinnerung ans gute Alte schon viel.

Christoph Hesse, Film-Politik-Avantgarde (Vortrag, Woche des politisch-avantgardistischen Films, Bochum 2000)