Ingo Elbe/Sven Ellmers/Jan Eufinger (Hg.)

Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse

Eigentum - Gesellschaftsvertrag - Staat III

Die Herrschaftsorganisation des modernen Kapitalismus unterscheidet sich Karl Marx zufolge grundlegend von allen vorherigen Gesellschaftsformationen. Während die Individuen früher nur voneinander und von der Natur abhingen, seien sie heute zusätzlich einem sachlich-anonymen Zwang der ökonomischen Verhältnisse untergeordnet. Dem entspricht auf der politischen Ebene die ‚Herrschaft des Gesetzes’. Anonyme Herrschaft hebt sich hier von den persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen des Feudalismus ab und wird im bürgerlichen Selbstverständnis als vernünftige Ordnung der Gewalt dargestellt, die jenseits menschlicher Willkür verortet sei.
Der Begriff anonymer Herrschaft soll im vorliegenden Band ausgehend von Marx’ Diagnose einer ‚sachlichen Abhängigkeit’ im Kapitalismus entwickelt und auf seine Leistungen und Grenzen hin befragt werden: Wann liegt eine reale Verselbständigung von Staat und Kapital vor, wie unterscheiden sich moderne von vormodernen Herrschaftsformen und wann schlägt die Theorie in eine ideologische Anonymisierung von Herrschaft um? Um diese und weitere Fragen zu erörtern, werden auch alternative Konzepte anonymer Herrschaft behandelt, wie die neuere angelsächsische Machtdebatte, Heideggers Technikphilosophie, Bourdieus allgemeine Ökonomie der Praxis, Kelsens Idee der Normherrschaft oder Arendts Totalitarismustheorie.

Inhalt

Michael Heinrich -
Individuum, Personifikation und unpersönliche Herrschaft

Hartwig Schuck -
Macht und Herrschaft. Eine realistische Analyse

Tobias Reichardt -
Unpersönliche Herrschaft in der griechischen Polis

Hendrik Wallat -
Die Herrschaft des Gesetzes und ihre Suspension. Ein Beitrag zur politischen Philosophie des Rechts(staats)

Matthias Bohlender -
Liberales Regierungsdenken. Zur Genealogie einer politischen Rationalität

Ingo Elbe -
Die ‚Herrschaft der Norm‘ zwischen Geltung und Gewalt –
Eigentum, Recht und Staat in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens

Christian Voller -
Im Zeitalter der Technik? –
Technikfetisch und Postfaschismus

Fabian Kettner -
Die Herrschaft des Niemand. Hannah Arendts Konzept anonymer Herrschaft und seine Folgen

Sven Ellmers -
Die Energie der sozialen Physik. Anmerkungen zum Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu

Pressestimmen:

"Der Diskussionsband „Anonyme Herrschaft“ ist es wert, in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs [...] die trotzige Aussage zu bringen: ’Eine andere, bessere und gerechtere [...] Welt ist möglich!’"
(socialnet.de 31.8.2012)

"Der Sammelband ist teilweise schwere Kost, aber auch und gerade für Jurist_innen, deren Denken meist qua Ausbildung an Kategorien persönlicher Schuld und Verantwortung orientiert ist, sehr lesenswert."
(Forum Recht 3.1.2014)

"So beginnt die Einleitung zum Sammelband [...] mit der Feststellung einer weitreichenden Akzentverschiebung in der Struktur moderner
Machtverhältnisse: „Die Herrschaftsorganisation des modernen Kapitalismus unterscheidet sich grundlegend von allen vorherigen Gesellschaftsformationen. Marx hat diesen Herrschaftstypus als ‚sachliche […] Abhängigkeit‘ bezeichnet: Während die Individuen früher nur voneinander und von der Natur abhingen, seien sie heute zusätzlich einem gesellschaftlichen Verhältnis der Sachen untergeordnet.“ Die Beiträge dieses Bandes entwickeln ausgehend von diesem Theoriepostulat und seinen Konsequenzen für handlungstheoretische Machtbegriffe bei Marx selbst (Michael Heinrich) und darüber hinaus (Hartwig Schuck) einen Ansatz zur Erklärung struktureller Macht, in dem die Sozialbeziehungen zwischen Klassen, Gruppen oder Individuen nicht das letzte Wort haben. Sie gehen zunächst eine Reihe von Formen anonymer Herrschaft durch, beginnend bei der Relativierung personaler Abhängigkeiten in der antiken Polis (Tobias Reichardt), über eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der Herrschaft unpersönlichen
Rechts (Hendrik Wallat), bis zur Genealogie liberaler Gouvernementalität (Matthias Bohlender). Darüber hinaus setzen sie sich mit rechtstheoretischen, philosophischen oder sozialtheoretischen Positionen auseinander, etwa mit Hans Kelsens normativistischem Rechtspositivismus (Ingo Elbe), Hannah Arendts Verständnis
von Bürokratie und Ökonomie (Fabian Kettner), philosophischen Strängen
konservativer Technikkritik (Christian Voller) oder Pierre Bourdieus Verwendung des Kapitalbegriffs (Sven Ellmers). Hierbei folgen die Beiträge, bei deutlichen Unterschieden in Länge und Qualität, oft demselben Grundmuster theoretischer Argumentation: Sie rekonstruieren und kritisieren – überwiegend präzise und kenntnisreich, teils aber auch zäh und wenig innovativ – die gewählten
machttheoretischen Denkweisen und Positionen, um deren Aporien an jenen Punkt zu treiben, an dem ein Mangel an gesellschaftstheoretischer Fundierung sichtbar wird, der ohne Einbeziehung der Kapitalismusanalyse von Marx nicht zu beheben sei."
(Soziologische Revue 39, Heft 1/2016)

2012 – 324 Seiten – 39,90 €
ISBN 978-3-89691-896-3
Westfälisches Dampfboot