Christoph Hesse
VI. „...die wichtigste aller Künste“. Über Bilder der Avantgarde im Kino der Revolution
Der Film sei die wichtigste aller Künste, meinte Lenin. Weil er anders als die traditionell dem Bildungsbürgertum vorbehaltenen Kunstgattungen der breiten Bevölkerung zugänglich - nach heutigem Sprachgebrauch: ein Massenmedium - ist, sollte er der Welt ihre Revolution in jedermann verständlichen Bildern nahebringen. Praktisch kam es dann ganz anders: „Ungehinderte Bewegungsfreiheit des amerikanischen Films überall in der Welt“ wurde später als eines der Ziele der Motion Picture Association of America verkündet. Die wichtigste aller Künste war tatsächlich längst der bedeutendste Zweig der modernen Kulturindustrie. Das Medium ergriff die Massen, nicht um sie gegen die sozialen Verhältnisse in Stellung zu bringen, sondern um sie mit treibhausmäßig fabrizierten Geschichten bei Laune zu halten, die sie für 90 Minuten das Leben vergessen ließen.
Was hier als politische Avantgarde des Kinos dagegen gestellt wird, folgt keiner eingebürgerten Definition, worunter etwa bestimmte Filme einer Epoche rangieren. Die Bezeichnung selbst ist nicht mehr als ein theoretischer Annäherungsversuch von ungefähr. Gemeint sind damit Filmexperimente, die auf der Suche nach einem neuen „Inhalt“ des Kinos zuerst die Form der Filme verändern, die nicht vor allem politische Filme, sondern, nach einer Unterscheidung Jean-Luc Godards, politisch Filme machen wollen. Historisch reichen solche Versuche bis zur sowjetischen Filmavantgarde der 1920er Jahre zurück; ihren vorläufig letzten Höhepunkt hatten sie im Gefolge des europäischen Autorenkinos zur Zeit der Neuen Linken. Zur Diskussion stehen Strategien und Wirkungsmöglichkeiten einer Avantgarde, die sich in einem Massenmedium ausdrücken will, ohne deshalb den eingeschliffenen Vorurteilen des Publikums zu folgen.
Die theoretische Vortrag, auch als Einführung für nicht mit der Sache Vertraute gedacht, wird von kurzen Filmbeispielen unterstützt. In Zeiten, da dieses Medium gründlich auf den Hund gekommen, ist das zugleich ein Stück Trauerarbeit: Erinnerung daran, daß das Kino mehr und anderes zu bieten hat als den armselig zur Schau gestellten Produktivkraftfortschritt von „Star Wars“ oder die heute als Autorenfilm gehandelten Schmonzetten aus der verkorksten Lebenswelt. Und: warum es die vielleicht nicht mehr wichtigste, aber im Rückblick immer noch schönste aller Künste ist.
Christoph Hesse hat Film- und Fernsehwissenschaft in Bochum studiert und über formalistische Filmtheorie promoviert.