V. Die „neue Marx-Lektüre“ als Paradigma marxistischer Theoriebildung
Lange Zeit hindurch konnten die komplementären Diskurse des partei-, später staatsoffiziellen Marxismus sowie des westlichen Antikommunismus die nahezu uneingeschränkte Definitionsmacht über das beanspruchen, was gemeinhin als ‚Marxscher’ oder ‚wissenschaftlicher Sozialismus’ galt. Abweichende Formen des Marxismus, wie der ‚westliche Marxismus’ oder die ‚neue Marx-Lektüre’ formulierten dagegen eine Kritik des traditionsmarxistischen Paradigmas und beanspruchten gegen dessen restringierte und ideologisierte Lesart die Herausarbeitung der ‚authentischen’ bzw. ‚esoterischen’ Gehalte der Marxschen Gesellschaftsanalyse und –kritik. Während der westliche Marxismus sich vorwiegend auf eine im engeren Sinne philosophisch-methodologische Diskussion der Marxschen Frühschriften konzentrierte und dabei hinsichtlich der Kritik der politischen Ökonomie klassische Annahmen des Traditionsmarxismus fortsetzte, weist die neue Marx-Lektüre eine in ihrer Konsequenz doppelt kritische Stoßrichtung auf: Die Mythen über das Marxsche Werk geraten dort ebenso in den Blick wie die Mythen im Marxschen Werk selbst. Es entsteht sukzessive ein neues Marx-Bild, das ein Spannungsfeld „zwischen klassischer Tradition und wissenschaftlicher Revolution“ (Michael Heinrich) erkennen lässt. Der paradigmatische Kern der neuen Marx-Lektüre besteht dabei in einer Kritik der noch vom westlichen Marxismus und vielen Vertretern des Neomarxismus tradierten historizistischen bzw. empiristischen Lesart der Marxschen Formanalyse kapitalistischer Vergesellschaftung. Diese Kritik nimmt positiv gewendet die Gestalt einer Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie und ihrer staats- wie revolutionstheoretischen Implikationen an. Inhaltlich wird in den Hauptsträngen der Debatte – durchaus widersprüchlich und keineswegs von allen Vertretern geteilt - eine dreifache Abkehr von zentralen Topoi des Traditionsmarxismus vollzogen: Eine Abkehr vom werttheoretischen Substantialismus, eine Abkehr von manipulationstheoretisch-instrumentalistischen Staatsauffassungen sowie eine Abkehr von arbeiterbewegungszentrierten bzw. ‚arbeitsontologischen’ (oder gar generell von) revolutionstheoretischen Deutungen der Kritik der politischen Ökonomie. Damit tritt die neue Marx-Lektüre an, die von der Orthodoxie bestenfalls proklamierte, aber niemals eingelöste (und mit ihren Mitteln auch gar nicht einlösbare) Programmatik einer Formtheorie des Sozialen auszuarbeiten. Es soll im Seminar zunächst einigen wichtigen Quellen und Motiven der neuen Marx-Lektüre nachgegangen werden.