III. Kulturindustrie. Mediengesellschaft als „Massenbetrug“?
“Zuletzt ist es gleichgültig, ob der Herde eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Herde gegen sich.”
Nietzsche
Kulturindustrie meint - seit der „Dialektik der Aufklärung“ von 1947 – jenen gesellschaftlichen Komplex, der weithin auch mit Massenkultur oder Massenmedien bezeichnet wird. Die Begrifflichkeit ist dabei keineswegs zufällig. Wie Adorno später betonte, sei man darauf bedacht gewesen, “von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst.”
Um wenige Begriffe der Kritischen Theorie ranken sich seither mehr interessierte Mißverständnisse als um den der Kulturindustrie. Daß zum Beispiel Adorno, weil er von Kunst mehr und unter Kultur anderes verstanden hat, als die Kulturindustrie ihren Zeitgenossen zu denken zuläßt, deshalb versnobt gewesen sei, ist noch der dürftigste Einwand von Leuten, die ihr unverschuldetes Vergnügen an der Sache rationalisieren wollen. Auch unter den vielfältigen Kulturtheorien herrscht Einvernehmen darin, daß die Thesen über Kulturindustrie wie auch immer veraltet seien.
In der Tat haben Horkheimer und Adorno damit einer Erfahrung Ausdruck gegeben, die heute vielleicht gar niemand mehr machen kann, weil jeder bereits zum Reproduktionskreislauf der Kulturindustrie unweigerlich hinzugehört. Nicht mehr nur das Ökonomische und Politische, auch das vermeintlich Private, das „eigene Leben“, die zwischenmenschlichen Beziehungen, der individuelle Genuß und nicht zuletzt das Denken sind in die Zuständigkeit des gesellschaftlichen Ganzen übergegangen. Kulturindustrie ist insofern zum Inbegriff der integralen Gesellschaft geworden, die jeden Ausweg versperrt, oder schlimmer noch: in der jeder mit Rosen gepflasterte Ausweg nur um so tiefer ins Verhängnis zurückführt.
Daß die Thesen über Kulturindustrie wahlweise „unterkomplex“ oder „übertrieben“ und auf jeden Fall „kulturkonservativ“ seien, gehört zu den geläufigsten Einwände bis heute. Die summarische Kritik mache sich blind gegen das Widersprüchliche und Widerständige der sogenannten populären Kultur und rücke zudem eine insgesamt doch eher harmlose Veranstaltung in die Nähe totalitärer Repression. Erstaunlich ist allerdings, wie wenig die von anderer Seite in Anspruch genommene Differenzierung der Sache bei den Kulturindustriethesen selber gelingt. Häufig ist von einer holzschnittartigen Manipulationstheorie die Rede, die man sodann diskursanalytisch oder anderweitig auflösen kann. Ebensooft wird das theoretische Fundament der Kulturindustriekritik, die Marxsche Warenanalyse, sei’s einfach ignoriert oder nach Art der Stillen Post überliefert. Zu einem scheinbaren Allerweltsthema wie Kultur(-Industrie) hat offenbar jeder immer schon eine Meinung, ohne die Sache einigermaßen überschaut zu haben.
Es geht nicht darum, ob man der Kritik der Kulturindustrie, wie man es bei politischen Ansichten tut, im einzelnen zustimmt oder nicht. Zu klären wäre aber, welche Rolle ihr in der kritischen Theorie spätkapitalistischer Vergesellschaftung zukommt, etwa als Scharnier zwischen ästhetischer Theorie und Ideologiekritik des gesellschaftlichen Massenbewußtseins (des oft ebenso märchenhaft interpretierten „Verblendungszusammenhangs”). Wer sich dessen leichtfertig entledigt, wird es zumindest schwer haben zu begreifen, warum die von den Gestalten und Mißgestalten der populären Kultur ergriffenen Menschen auch weiterhin mehrheitlich “für baren Unsinn das Martyrium erleiden” (Adorno), anstatt es etwa abzuschaffen.
Das Seminar soll – anhand der gemeinsamen Diskussion des entsprechenden Kapitels aus der „Dialektik der Aufklärung“ (und ggf. anderer Texte zum Thema) – einen Begriff von Kulturindustrie entwickeln helfen, der über die bisweilen üblichen Schlagworte von Standardisierung und Massenbetrug hinausreicht. Je nach Interesse könnte es dabei vor allem um den Stellenwert der Kulturindustriekritik für die Kritischen Theoretiker selber, um die theoretischen Voraussetzungen dieser Kritik oder auch um deren Bedeutung gegenüber zeitgenössischen Medien- und Kulturtheorien gehen.