Ingo Elbe

Die ‚Herrschaft der Norm’ zwischen Geltung und Gewalt

Eigentum, Recht und Staat in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens

Hans Kelsen gilt als ‚Jurist des 20. Jahrhunderts’. Sein Werk revolutioniert nicht nur das rechtswissenschaftliche Denken, es nimmt auch zu den wichtigsten geschichtlichen Ereignissen und Prozessen dieses Jahrhunderts Stellung, ja, es gehört teilweise sogar zu den Faktoren dieser Geschichte. Kelsen zeichnet wesentlich verantwortlich für die österreichische Bundesverfassung von 1920, hat sich an den Diskussionen um Staat und Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit beteiligt, verteidigte die Weimarer Verfassung gegen Carl Schmitts autoritäre Ambitionen und hatte nach 1945 kurzzeitig Einfluss auf die Behandlung der Frage der Rechtsnachfolgerschaft des ‚Dritten Reichs’.
Im Folgenden können die vielfältigen historischen Reflexionen und Interventionen Kelsens nicht einmal ansatzweise gewürdigt und dargestellt werden. Vielmehr sollen seine grundlegenden Überlegungen zu Recht, Eigentum und Staat thematisiert werden. Kelsens Beiträge zu diesen Themen weisen eine „unerschrockene Folgerichtigkeit“ (Paschukanis) auf und sind für eine kritische Gesellschaftstheorie nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie beanspruchen, diese Phänomene ideologiekritisch zu beleuchten, sondern auch, weil Kelsen seine Theorie stets in Auseinandersetzung mit den marxistischen und sozialistischen Doktrinen seiner Zeit entwickelte. An Kelsen können schließlich die Konsequenzen einer Rechtsphilosophie nach dem Scheitern der Rechtsbegründung aus praktischer Vernunft studiert werden. Kelsen geht von der Diagnose dieses Scheiterns aus, versucht aber dennoch eine Rechtstheorie jenseits von bloßem Machtrealismus zu formulieren: Der vernunftrechtlich artikulierte Gedanke einer Herrschaftsordnung als Autokratie des allen gleiche Freiheit garantierenden Gesetzes wird von Kelsen in das entkernte Modell einer Herrschaft der – welchen Inhalt auch immer annehmenden – Norm transformiert.

zum Text:

Inhalt

I. Reine Rechtslehre als normativistischer Rechtspositivismus
a) Das Recht als Norm
b) Die Rechtsnorm als Zwangsnorm
c) Die Grundnorm
d) Exkurs: Harts Alternativprogramm eines Minimal’naturrechts’ der herrschenden Gruppe oder Klasse
e) Geltung und Wirksamkeit

II. Eigentum und Person
a) Eigentum und subjektives Recht
b) Rechtssubjekt und Rechtsverhältnis

III. Der Staat als Rechtsstaat
a) Der Staat als zentralisierte Rechtsordnung
b) Elemente der Staatsordnung
c) Gedankending und Zwangszusammenhang
d) Rechtmäßige Selbstaushebelung des Rechts
e) Etatismus und soziologistische Inhaltstheorie des Staates

IV. Resümee

(leicht erweiterte Version des in Ingo Elbe, Paradigmen anonymer Herrschaft, Würzburg 2015 erschienenen Aufsatzes)