Rüdiger Dannemann

Verdinglichung, Warenfetischismus und die Ohnmacht der Demokratie

Lukács’ Verdinglichungstheorie als Kritik des neoliberalen Kapitalismus

I. Manchmal ist es nicht zu vermeiden, sich dem eigentlichen Gegenstand auf Umwegen nähern.

Ich möchte mit einer kleinen Anmerkung beginnen, die bei aller Unseriosität ganz ernst zu nehmen ist, weil sie Symptomatisches indiziert: Wir haben es heute Abend mit einem Philosophen zu tun, der, wie die FAZ Mitte Oktober 2001 herausgefunden hat, als einer der Ahnen der Terrorismus zu betrachten ist [1]. Obwohl man in Sachen Marxismus allerhand gewohnt ist, habe ich gestaunt, als ich dies las. Hören wir die Argumente der FAZ: Lukács diente - wie vielleicht bekannt ist - Thomas Mann im "Zauberberg" als Vorlage für die Gestalt des radikal-reaktionären Jesuiten Naphta, des Gegenspielers des liberalen Aufkläreres Settembrini. Für den FAZ-Kritiker und Experten Frederick A. Lubich ist davon auszugehen, daß Mann in dem rückwärts gewandten obskurantistischen Gegenaufklärer und Gewaltverherrlicher Naphta das Bild des modernen Terroristen bereits vorweggenommen bzw. den "Tugendkatalog" des internationalen Terrorismus formuliert hat. In der zeitgenössischen, leichtfüßig verkürzenden, aber auf jeden Fall antiterroristrischen Logik könnte man mit Lubich den Syllogismus bilden:

Lukács ist Naphta.
Naphta ist ein Terrorist.
Also ist auch Lukács ein Terrorist (und - so die praktisch zwingende zweite Conclusio - gehört mithin verboten. Persönlich verfolgen kann man ihn leider nicht mehr, da er ja bereits verstorben ist.).

Ich möchte mich nicht weiter in die Auseinandersetzung mit kompetenten Analytikern der angeblich total neuen Verhältnisse nach dem 11.September verlieren, zitiere nur Heinz Kimmerle, der bereits 1985 erhellenderes über die Ursachen des Terrorismus zu schreiben wusste [2]:

"Die Weltgesellschaft beginnt eine Identität auszubilden,
vor der man nur erschrecken kann.
Das Ich, das alles haben will,
erweitert sich zum Wir der Menschheit,
die in universaler Kollektivität
dem Warenfetischismus verfällt."

Eine wahrlich terroristische Angelegenheit. Kommen wir nach dem unvermeidbaren Umweg aus aktuellem Anlaß zu Lukács’ zentralem theoretischen Beitrag zur Philosophie des letzten Jahrhunderts. Ich möchte in den folgenden Ausführungen den Versuch machen, a) die Vorgeschichte von Lukács’ Verdinglichungstheorie zu skizzieren, b) das Projekt der Verdinglichungstheorie zu umreißen, c) einige Schwierigkeiten des Konzepts zu benennen, d) dessen Aktualität in demokratietheoretischer Zuspitzung ansatzweise plausibel zu machen. Daß meine Ausführungen unvollständig sein müssen und Pointierungen enthalten, wird natürlich nicht zu vermeiden sein. Lukács’ 1923 erschienenes Buch "Geschichte und Klassenbewusstsein", in dem dieser seine Verdinglichungstheorie entfaltet hat, war nicht bloß - wie ein Kritiker letzthin notierte - in den 70er Jahren ein Verkaufserfolg (sofern man davon bei wissenschaftlichen Büchern überhaupt sprechen kann), zu seinen (manchmal euphorischen, nicht selten kritischen) Bewunderern zählen immerhin so unterschiedliche Autoren von Rang wie Ernst Bloch, Th.W.Adorno, Merleau-Ponty, Lucien Goldmann, Adolfo Sánchez Vázquez, Bolivar Echeverrías [3], Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl, Alfred Schmidt, die ehemaligen Repräsentanten der "Budapester Schule", der frühe Jürgen Habermas, also jener Habermas, der noch nicht von Gerhard Schröder über Otto Schily bis zu Joseph Fischer und Johannes Rau als bundesdeutscher Staatsphilosoph gefeiert werden konnte. Axel Honneth hat darauf aufmerksam gemacht, daß Adorno, Horkheimer und Marcuse "eine wahrscheinlich eher politisch motivierte Tendenz besessen haben, die durchschlagende Erfahrung, die für sie alle "Geschichte und Klassenbewußtsein" dargestellt haben muß, herunterzuspielen oder gar zu ignorieren." [4] Dies gilt zumal für Adorno, der demnächst in Frankfurt in opulenter Form gefeiert werden wird.

II. Zur Vorgeschichte von Lukács’ Verdinglichungstheorie

Lukács ist - so meine These - kein Philologe, sondern originär Philosoph, dessen Werk durch ureigene Erfahrungen, Intuitionen, thematische Fixierungen geprägt ist. Lukács’ ursprüngliche Erfahrung könnte man vielleicht komprimiert als Komplex aus persönlicher Rebellion des Bankierssohns gegen sein als unerträglich empfundenes Milieu, aus kultureller Frustration an der Kunst des Fin de Siecle und der entsprechenden "transzendentalen Obdachlosigkeit" des Intellektuellen bezeichnen. Dieser oft eher intuitiv vorgetragene Protest gegen die sich ausbreitende bürgerliche Form der Vergesellschaftung [5] bildet den lebensgeschichtlichen Nährboden für die spätere Verdinglichungstheorie. Bereits in seinem frühen Dramenbuch hebt der junge Ästhetiker auf die schwierige Situation der Kunst in der Moderne ab, einer Moderne, die durch eine akkumulierende Versachlichung des Lebens gekennzeichnet ist, durch die Entzauberung der Welt. [6] Während Lukács in "Die Seele und die Formen" dem konturlosen Leben die Form gegenüberstellt, die ästhetische Form gleichsam als Chance des Exodus aus der banalen Alltäglichkeit präsentierend, [7] macht er in seiner "Theorie des Romans" erstmals den Versuch einer geschichtsphilosophisch angelegten Analyse einer der Gestalten des objektiven Geistes (des Romans) als Ausdruck des Weltzustandes.

Unschwer lässt sich erkennen, daß Lukács auf dem Weg zur Formulierung seiner Verdinglichungstheorie bei sehr unterschiedlichen theoretischen Ansätzen Anleihen macht. Der gelehrige Adept aus Mitteleuropa bezieht sich auf Georg Simmels Lebensphilosophie (zumal dessen "Philosophie des Geldes"), auf Max Webers Theorie neuzeitlicher Rationalität, aber auch auf Karl Marx und Hegel. Im Zuge seiner durch die Erfahrungen des I.Weltkriegs ausgelösten politischen Radikalisierung stößt Lukács, der anders als etwa Simmel den Krieg von Anfang an ablehnte, auf andere theoretische Traditionen, etwa russische Autoren wie Solowjew, Ropschin und v.a. Dostojewski. In seinen Dostojewski-Fragmenten, die während des Weltkriegs enstehen, entwickelt Lukács die Umrisse einer antiformalistischen und antiinstitutionalistischen Ethik, die erst postum veröffentlicht werden.

III. Das Projekt der Verdinglichungstheorie

Eine ihn philosophisch (zumindest temporär) zufrieden stellende Formulierung seiner Intuitionen gelingt Lukács erst in "Geschichte und Klassenbewusstsein" mit seinem großen Essay "Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats". Das Buch rief sofort polemische Attacken v.a. sowjetischer Kommunisten hervor, zu seinen kontemporären Verteidigern gehörten aber andererseits Karl Korsch und Ernst Bloch. Diese mehr als engagiert geführte Debatte erklärt sich, wenn man sich die Pointen von Lukács’ Rekonstruktion der Marxschen Theorie klar macht. Lukács wendet sich gegen ein Verständnis von Marx’ Lehre als einer positiven Wissenschaft im Sinne Karl Kautskys oder Bucharins. (Beide verstehen Marx als eine Art Darwin der Geschichte bzw. Gesellschaft ohne Reflexion auf die methodologischen Prämissen seiner Kritik der politischen Ökonomie.) Lukács macht den Versuch, Marx’ dialektische Theorie als ein kohärentes philosophisches Konzept zu rekonstruieren. Als systematischen Ausgangspunkt der Rekonstruktion wählt er Marx’ im ersten Band des Kapital entfaltete Lehre von der Wertform. Er möchte zeigen, daß das Fetischkapitel in nuce die kritische Philosophie von Marx enthält. Es ist nicht nur als eine eng begrenzte ökonomische Theorie zu verstehen, sondern enthält in Lukács’ Sicht der Dinge

1. eine Philosophie der Gegenwartsgesellschaft
2. eine Ideologietheorie (die auch zur Erklärung wissenschaftlicher und philosophischer Theorien heranzuziehen ist)
3. eine Theorie der Geschichte
4. eine politische Philosophie,

kurz: das theoretische Angebot einer Sicht auf das Ganze des gesellschaftlichen Seins.

Ich möchte in unserem Rahmen nur einen Aspekt von Lukács’ Verständnis der Marxschen Theorie der Warengesellschaft erörtern: seine Pointierung der Marxschen Kapitalismuskritik auf den Aspekt des Verdinglichung, eine Pointierung, die gleichzeitig Lukács’ Reformulierung von Marx’ Kritik der Gegenwartsgesellschaft zum Ausdruck bringt. [8]

Marx hatte in seinem politökonomischen Hauptwerk die moderne Gesellschaft als eine warenproduzierende zu analysieren versucht. Nur wer die Logik der Warenproduktion bzw. des Warentauschs versteht - so der Grundgedanke von Marx, in der Lukácsschen Rekonstruktion - kann moderne kapitalistische Gesellschaften funktional begreifen und kritisch untersuchen. Um die Pointen des Marxschen Ansatzes zu verdeutlichen, möchte ich dessen Analyse der Ware kurz vergegenwärtigen. Bei Marx sind vier Schritte der Warenproduktion zu unterscheiden:

1. Zunächst untersucht Marx bekanntlich den Doppelcharakter der Ware, die für die Wertformanalyse konstitutiven Faktoren Gebrauchs- und Tauschwert.
2. In einem zweiten Schritt differenziert er entsprechend den Doppelcharakter der produzierenden Arbeit, untersucht also die subjektiven Voraussetzungen, das subjektive Prinzip des Warentauschs.
3. Darauf folgt die genetische Deduktion der vier Wertverhältnisse oder Erscheinungsformen des Werts, beginnend mit dem Wertverhältnis zweier Waren bis hin zur Geldform als der allen Waren gemeinsamen Wertgestalt, in der das Wertverhältnis die Gestalt eines selbständigen Dings annimmt.
4. Endlich betrachtet Marx die Wertform als Totalität, als Elementarform einer strukturellen Ganzheit: den Warenfetischismus.

Diese Fetischlehre enthält einige philosophische Pointen: vor allem die der Verkehrung und der Abstraktion. Ich gebe Marx’ Kennzeichnung dieser Pointen wider, indem ich seine Ausführungen im Kapital I, S.107f paraphrasiere:

Schon der einfachste Wertausdruck, x Ware A = y Ware B lässt ein Ding (in Marx’ Beispiel einen Rock), worin die Wertgröße eines anderen Dings dargestellt wird (bei Marx Leinwand), also die Äquivalentform als Natureigenschaft besitzen. Wenn die allgemeine Äquivalentform mit einer besonderen Ware (Gold, Silber) verwachsen oder zur Geldform kristallisiert ist, ist der Prozeß der Verkehrung zum (vorläufigen) Abschluß gelangt: Die Waren finden ihre eigene Wertgestalt fertig vor - als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper, Indem die Arbeitsprodukte allgemein die Warenform annehmen, wird dieser Prozeß der Verkehrung universell.

Eine Verkehrung hat also stattgefunden, indem sich ein gesellschaftliches Verhältnis (der Wert eines Arbeitsprodukts) als Natureigenschaft eines Dings (Gold, Geld) darstellt. Wenn die bisher betrachtete einfache Warenzirkulation zur Kapitalzirkulation geworden ist, potenziert sich die Verkehrung:: die Geldzirkulation wird zum Selbstzweck, zur - so Marx - maßlosen Jagd nach abstraktem Reichtum.

Lukács, der in "GuK" keine penible Exegese des "Kapital" intendiert, interpretiert die Pointen der Marxschen Analyse der Warenproduktion ganz im bislang skizzierten Sinn:

1. Für ihn ist die Logik der Warenproduktion die der Abstraktion, in der sich das Telos der Produktion auf die Mehrung abstrakten Reichtums verlagert hat und die vom Telos einer auf konkrete, eventuell nicht manipulierte Bedürfnisse orientierten Gebrauchswertproduktion nach Kräften abstrahiert.
2. Die Verkehrung eines gesellschaftlichen Verhältnisses in ein Verhältnis von Dingen ist nicht pure Ideologie, sondern Ausdruck des wirklichen Verlusts der gesellschaftlichen Kontrolle des Produktionsprozesses, Ausdruck der Tatsache, daß sich die Produktionsverhältnisse in "von individuellem Tun unabhängige Gestalten" (Marx) verwandelt hat.

Mit dem Terminus Verdinglichung bringt Lukács diese Pointen der Wertformanalyse m.E. auf den sachlich angemessenen Punkt: Moderne Gesellschaften sind von der Basis her Gesellschaften, in den abstrakte Prinzipien (hier die Prinzipien der Kapitalszirkulation) zum Realitätsprinzip geworden sind. Sie machen die Produzenten, die produzierenden Subjekte zum Objekt der wirtschaftlichen wie gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Je stärker die Logik der Warenproduktion in bislang nicht betroffene Lebensbereiche, etwa die der eigenen oder "fremder" Kultur, migriert, desto umfassender wird das System der Verdinglichung, das System der - so Lukács - verdinglichten Lebensformen. Lukács selbst hat auf entsprechende Entwicklungstendenzen im modernen Rechtswesen, der modernen Kultur und Philosophie aufmerksam gemacht. Den Schriften seines Lehrers Max Weber entnimmt Lukács den Nachweis, daß sich der kapitalistische Rationalisierungstyp mit seinen Hauptmerkmalen der Reduktion von Qualitativem auf pure, austauschbare Quantitäten und des "Prinzips einer auf Kalkulation, auf ’Kalkulierbarkeit’ eingestellten Rationalisierung" auch in den Institutionen des modernen Rechts sowie in dem "nüchternen Tatbestand der universellen Bürokratisierung" manifestiert. Bereits "Geschichte und Klassenbewusstsein" verfolgt die Spuren des für die Warenproduktion typischen Rationalitätstyps vom Journalismus über die Wissenschaftsproduktion bis in die Gipfelfigurationen des bürgerlichen Denkens, d.s. für Lukács Kant und Hegel. Die abstrakte Rationalität der "reinen Vernunft" führt zu den intern unlösbaren Problemen von rationaler Form und irrationalem Inhalt, von Sein und Sollen - Problemen, die in Kants Theorem der Unerkennbarkeit des Dinges an sich ihren zugespitzten Ausdruck bekommen. Adorno, Sohn-Rethel, Marcuse, der frühe Habermas haben diese Ansätze in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und manchmal weiterentwickelt.

Reflektiert man Lukács’ Interpretation von Marx impliziter Philosophie, so wird offenkundig, daß die Verdinglichungstheorie - politisch gewendet - im Kern eine Theorie des Wiedergewinns von Autonomie ist, bzw.: eine emphatische Demokratisierungstheorie, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen Gestalten bürgerlicher Demokratie ihre Legitimität und Aktualität unter Beweis stellen kann. Darauf werde ich im letzten Teil meiner Ausführungen noch näher eingehen. Zuvor möchte ich aber wenigsten einige Probleme von Lukács’ Verdinglichungstheorie ansprechen.
IV. Probleme der Verdinglichungstheorie

Obwohl die Verbreitung von Verdinglichungstendenzen keineswegs abgenommen hat, ist der Diskurs der Verdinglichungskritik von der publizistischen oder intellektuellen Bildfläche praktisch verschwunden. Sicher gibt es dafür eine ganze Serie von Gründen, etwa den Zeitgeist nach dem Zusammenbruch des sog. Realsozialismus, der den marxistischen Diskurs insgesamt hierzulande fast auf den Nullpunkt brachte. Das Misstrauen in alle Formen utopischen Denkens hat dazu geführt, Entfremdungs- oder Verdinglichungstheorien, die mit starken Vorstellungen von Emanzipation arbeiten, zu verabschieden und sich entweder politischen patchwork-Theorien zuzuwenden, sich auf das ideologiefreie Feld der Systemtheorie zurückzuziehen oder in die Finessen einer zynisch gewordenen Vernunft. Ich beschränke mich darauf, im Anschluß an Bemerkungen von Rahel Jaeggi einige konkretere theoretische Probleme anzusprechen, die einer Revitalisierung der Verdinglichungstheorie trotz der evidenten Realität von Reifikation entgegenstehen. Jaeggi macht v.a. auf folgende problematische Eigenarten des Ansatzes von "Geschichte und Klassenbewußtsein" aufmerksam [9]:

(a) Lukács arbeite mit essentialistischen Vorstellungen von Authentizität bzw. von authentischer Subjektivität.

(b) Er übernehme unbefragt die Gewohnheit, bestimmte Lebensbereiche als persönliche, dem Markt entzogene oder zu entziehende, nicht instrumentelle Bereiche zu betrachten.

(c) Lukács operiere mit Vorstellungen von Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, persönlicher Identität, ohne die komplizierten ethischen Prämissen zureichend geklärt zu haben.

(d) Dabei glorifiziere er Formen von Unmittelbarkeit, Direktheit, ursprünglicher Erfahrung, soz. - um mit Handke zu sprechen - Stunden der wahren Empfindung(en).

(e) Der Ambivalenz von Verdinglichungsprozessen (von rationaler Bürokratisierung) und Freiheitsgewinn werde er im Unterschied etwa zu Georg Simmel nicht gerecht.

(f) Statt das Spannungsverhältnis von Autonomie und Heteronomie in der Moderne (im modernen Verhältnis zur Welt) zu thematiseren, betone er mit problematischer Emphase die Vorstellung eines Subjekts, das seine eigene Welt produziert.

Jaeggis manche Vorgänger zumal der Habermas-Schule beerbender Problemaufriß ist in meinen Augen streckenweise von heuristischem Wert oder schlicht plausibel, etwa bei der Frage nach den ethischen Prämissen eines emphatischen Konzepts von Autonomie oder nach der Ambivalenz von Verdinglichungsprozessen. Lukács hat sich lebenslang an ethischen Grundlagenproblemen abgearbeitet, ohne mit seinen Resultaten je ganz zufrieden gewesen zu sein. Zweifellos ist uns sein in "Geschichte und Klassenbewußtsein" verwendeter Subjektsbegriff (zumal seine Vision des Proletariats als identisches Subjekt-Objekt) uns fremd geworden, insofern uns die Logik einer Subjektivität, die - sich als Produzent verstehend - zu praktisch grenzenloser Universalisierung fähig ist, suspekt geworden ist. Es ist auch zutreffend, daß die Ambivalenzen der kapitalistischen Warenproduktion deutlicher zu markieren sind. Kann es doch einem gegenwärtigen Verdinglichungsdiskurs weder darum gehen, prämonetäre Zustände unkritisch zu bejahen oder eine unmittelbare Orientierung der Produktion an den Gebrauchswerten der Produkte bzw. den Bedürfnissen der Produzenten sich unterkomplex vorzustellen, so als könnte auf jede Form von abstrakter Rationalität in modernen Gesellschaften verzichtet werden. Ganz anders, scheint mir, verhält es sich mit dem kritischen Grundimpuls der Verdinglichungstheorie: dieser besteht ja darin, dagegen zu protestieren, daß sich das Verdinglichungseffekte produzierende Warenprinzip und deren Rationalität totalisiert. Ich finde überhaupt keinen Grund zu der Annahme, daß die Aktualität dieses Ansatzes seit den 20er oder 60/70 er Jahren, als "Geschichte und Klassenbewußtsein" wiederentdeckt wurde, abgenommen hat. Das, was gegenwärtig in Europa oder weltweit im Zuge der Globalisierung zu beobachten ist, zeigt, wie desolat und wie selten Versuche geworden sind, Lebensbereiche von der Logik der Warenproduktion abzukoppeln oder auch nur zu schützen. Auch vorsichtige Beobachter wie Axel Honneth räumen inzwischen ein, daß es seit den 90er Jahren eine rasante Vulgarisierung von Verwertungsimperativen gibt. Eine klar definierte Grenze und vor allem die Institutionalisierung einer solchen Grenze gibt es gegenwärtig nicht. Noam Chomsky hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich die am Paradigma des Neoliberalismus orientierende Globalisierung mit ihrem Grundsatz "profit over people" "nicht nur in den USA, sondern weltweit - als der erste und unmittelbare Feind wirklicher Demokratie" erwiesen habe, woran sich auf absehbare Zeit auch nichts ändern werde (Chomsky weist darauf hin, daß die Proteste gegen die WTO eben ihre tiefe Berechtigung besitzen, insofern diese gegen die Strömungen und Völker vorgeht, die überall in der Welt ihre eigenen Bedürfnisse zum Ausdruck bringen und authentischen politischen Demokratieformen zuneigen [10]). Damit stehen wir erneut vor den Fragen einer eventuell gegenwartstheoretisch revidierten Theorie der Verdinglichung. Wie eine solche Aktualisierung aussehen könnte, möchte ich am Beispiel der Diskussion über Defizite der gegenwärtigen Demokratie skizzieren.
V. Chancen der Reaktualisierung - Demokratietheoretische Überlegungen

Unser Demokratiemodell, das eine Zeit lang als sakrosankter Endpunkt der Geschichte galt, ist gegenwärtig nicht mehr nur unter exotischen Radikalen obsolet geworden. Für einen solchen Wandel gibt es Gründe. Defizite unseres Demokratiemodells sind unübersehbar geworden. Die geringe Wahlbeteiligung in Europa und den Vereinigten Staaten (an den Kongresswahlen in den USA beteiligten sich 1998 nur ein Drittel der Wahlberechtigten) führt das Mehrheitsprinzip mehr und mehr ad absurdum. Nicht nur bei klassischen populistischen Fragen wie der Todesstrafe, auch bei den zentralen Problemen der innen- wie außenpolitischen Entwicklung wird "dem Volk", dem deklarierten Souverän in Demokratien, weitgehend die Last der Dezision abgenommen. Das gilt zum Beispiel für die Euopapolitik (und deren vertragliche Grundlagen), für die lebenswissenschaftliche Revolutionierung unserer Gesellschaft und Kultur. Unübersehbar ist das Misstrauen der politischen Klasse in "das Volk" geworden, dessen Kompetenz für die Lösung der anstehenden komplizierten Fragen überaus fragwürdig scheint. Lieber beruft die - um einen Terminus von Johannes Agnoli [11] zu verwenden - konstitutionelle Oligarchie - um ein hiesiges Exempel zu statuieren - einen Nationalen Ethikrat, auf dessen reputierte Mitglieder man sich bei aller Pluralität doch verlassen kann, oder betreibt eine Europapolitik, angesichts derer R.Bubner die Grundfrage der Demokratie, die Frage nach der demokratischen Legitimation durch das Volk als Souverän der Demokratie aufwerfen zu müssen glaubt. Aber nicht erst seit dem Afghanistan-Konflikt lassen sich viele Menschen die Abstraktionen der offiziellen Politik von ihren vitalen Interessen nicht mehr einfach gefallen.

In den letzten Jahren ist auch eine neuerlichen Theoriedebatte über alternative Demokratiemodelle erwacht. Pierre Bourdieu etwa fordert eine neue europäische soziale Bewegung, wider die entpolitisierte Politik. Er sieht verheerende Folgen der Globalisierung auf das politische System "Diese Politik, die sich schamlos eines Vokabulars der Freiheit, des Liberalismus, der Liberalisierung, der Deregulierung bedient, ist in Wirklichkeit eine Politik der Entpolitisierung und zielt paradoxerweise darauf ab, die Fesseln der Ökonomie von ihren Fesseln zu befreien, ihnen dadurch einen fatalen Einfluss einzuräumen und die Regierungen ebenso wie die Bürger den derart "befreiten" Gesetzen der Ökonomie zu unterwerfen." [12] Wie sich gezeigt hat, sind die traditionellen politischen Organisationen (z.B. die Gewerkschaften) nicht in der Lage, die Entpolitisierung der Politik aufzuhalten. Bourdieu u.a. fordern deshalb ganz neue Organisationsformen, die die noch zersplittert agierenden sozialen Bewegungen aus ihrem orts- und zeitgebundenen Partikularismus reißen, das Hin und Her zwischen Zeiten intensiver Mobilisierung und Zeiten einer latenten oder verlangsamten Existenz überwinden, ohne dabei bürokratischer Konzentration Raum zu geben. Toni Negri und Michael Hardt beschreiben suggestiv das Empire - als das höchste Stadium des Kapitalismus, eine neue Form des Imperialismus mit totalitärer Kontrolle und biopolitischer Ordnung. [13] Johannes Agnoli handelt von der Unfähigkeit des global gewordenen Kapitalismus, eine redundante, überflüssige Population systemisch zu reduzieren. [14] Heute gibt es neben den von den Klassikern übersehenen Überflüssigen im außereuropäischen Rest der Welt die redundante Population im Lande - und keiner kann sagen: mit sinkender Tendenz. Es mehren sich die Stimmen, die den Kollaps des siegreichen westlichen Globalisierungsmodells voraussagen. Gregor Gysi ist überzeugt, dass der Kapitalismus an seinen Siegen ersticken wird. [15]

In dieser Situation gewinnen die Reflexionen über sozialistische Demokratie eine neue überraschende Bedeutung. Bereits in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts hatte sich Lukács in seinen parlamentarismuskritischen Schriften um eine Synthese von Lenin und Rosa Luxemburg bemüht, deren organisationstheoretische Konkretisierung aber ohne Gewaltsamkeiten und fragwürdige Idealisierungen nicht auskam. [16] Die 68er Revolte bezog sich mit Vorliebe auf diese Frühschriften, die überraschenderweise APO wie KBW als reflexive Vorlage dienen konnten. Sub specie historiae mundi erschien Lukács 1920 der Parlamentarismus überholt, ein Indikator für eine historische Situation, in der die Arbeiterschaft in die Defensive gedrängt war. Lukács empfahl einen taktischen Umgang mit dem parlamentarischen System und verstieg sich zu der oft zitierten These, die Arbeiterräte stellten den Tod der Sozialdemokratie dar. [17] Seinen reifen, an die demokratischen Intuitionen von "GuK" anknüpfenden und der Verdinglichungstheorie am ehesten entsprechenden Ausdruck bekommt Lukács’ politisches Denken in dem postum publizierten politischen Testament "Sozialismus und Demokratisierung", das dieser 1968, zur Zeit des "Prager Frühlings" verfasste. Lukács’ Überlegungen über den weltgeschichtlichen Gehalt des gescheiterten, aber unabgegoltenen Projekts "Rätesystem" gehören in den Kontext einer Theorie, die sich den Demokratie-Defiziten der Globalisierung ernsthaft annimmt und über posttraditionale Gemeinschaften (Honneth) nachzudenken beginnt. Aber auch sein Beharren auf "traditionellen" marxistischen Topoi sollte in den bevorstehenden Debatten als Stimulans wirken: Imperialismustheorie wie Parlamentarismuskritik sind - wie die Beispiele Negri und Bourdieu indizieren - nicht einfach als leere Dogmen oder rhetorische Floskeln rückwärts gewandter Träumer abzutun.

Hier einige fragmentarische Hinweise zu Lukács’ Umrisszeichnung einer nichtstalinistischen sozialistischen Demokratie. Bereits in seinem bekannten Genfer Vortrag "Aristokratische und demokratische Weltanschauung"(1946) hatte Lukács seine Vorstellung, seine Definition von Demokratie formuliert. Nur wenn alle realen Formen der Abhängigkeit des Menschen von Menschen, der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, verschwinden, wenn ökonomische Lage, Nationalität und Geschlecht nicht mehr Ursachen von Minderprivilegierung sind, kann von Demokratie gesprochen werden. "Indem die Menschen um die neue Demokratie kämpfen, sie aufbauen, erwacht der Geist des Citoyentums; indem sie sich selbst weltanschaulich umbauen, drängen sie zum Kampf um neue Institutionen der Demokratie." [18] Für Lukács bleibt das Rätesystem Modell einer umfassenden Demokratisierung und nicht das Konzept einer demokratischen Institutionenlehre oder eines wie immer gearteten Verfassungspatriotismus á la Habermas. [19] Welthistorisch bedeutsam war am Rätesystem, an den Rätebewegungen von 1871, 1905 und 1917 für Lukács das Moment der autonomen Praxis: "Erst im Rätesystem können die verschiedenen Formen der Manipulation durch demokratische Selbstregulierung ausgeschlossen werden." [20] Lukács bleibt skeptisch gegenüber dem Parlamentarismus: "Je reiner der Parlamentarismus, die zentrale und typischste Verwirklichung dieser (bürgerlichen) staatlichen Idealität, sich scheinbar, formell vom Leben der realen Gesellschaft verselbständigt, als reines Organ des "idealen" Volkswillens zu figurieren instand gesetzt wird, ein desto geeigneteres Instrument wird er dazu, die egoistischen Interessen von Kapitalistengruppen zur Geltung zu bringen, und zwar gerade unter dem Schein einer unbegrenzten Freiheit und Gleichheit." [21] Lukács gibt Reflexionen über die "Gewöhnung" an demokratische Praktiken breiten Raum: Nur Menschen, die in ihrem Alltagsleben Erfahrungen mit Demokratie gemacht haben, deren Sozialisation Formen "demokratischer Selbstregulierung" nicht ausnahmsweise, sondern im Regelfall beinhaltet, können sich vom System der Manipulation und Entfremdung emanzipieren, können verhindern, daß sich eine neue politische Klasse etabliert, die eigene Bedürfnisse entwickelt und politische Praxis jenseits der Interessen der Betroffenen zum Normalfall macht. Demokratische Selbstregulierung ist aber nicht vorstellbar, solange die kapitalistische Organisation der Wirtschaft existiert, den Geltungsbereich von Demokratie beschränkt und die Logik des Wertgesetzes das Kapital zum Subjekt (zum dominierenden Akteur) macht. Eine Beschränkung von demokratischen Prozeduren auf den Bereich des Politischen, wie das in bürgerlichen Gesellschaften zum System geworden ist, bleibt ohnmächtig, ja führt unter den Bedingungen systemischer Manipulation zur Entpolitisierung des Politischen. Die Attraktivität der Rätebewegungen beruhte primär darauf, dass in ihnen konkrete Fragen (z.B. des Betriebs, des Wohnens, des Zusammenlebens) mit den "großen Fragen" der Politik in eine Beziehung gebracht werden konnten, dass in der proletarischen Öffentlichkeit die großen wie die konkreten Probleme gleichermaßen auf der Tagesordnung standen. In diesen Perioden des Experimentierens verloren die Rätebewegten die übliche politische Apathie, ihren bloßen Objektcharakter. Trotz ihres historischen Scheiterns und der Kürze ihrer Existenz liefern die Rätebewegungen für Lukács ein Modell der sozialistischen Demokratie, insofern diese dazu "berufen ist, die letzte, höchst entwickelte Form der Gegenmenschlichkeit (der andere Mensch als Schranke, als bloßes Objekt, als möglicher Gegner oder Feind für die eigene, selbstverwirklichende Praxis) zu überwinden" [22] bzw. - um die Sprache von "GuK" zu verwenden: die Aufhebung des Systems von Verdinglichungen zur Lebensform zu machen.

Gegen Lukács’ Demokratievorstellungen ist vorgebracht worden, sie sei prämodern, insofern sie illusionären Homogenitätsillusionen nachhänge, das ökonomische Prinzip des Marktes negiere und basisdemokratische Politikvorstellungen überanstrenge. [23] Der erste Vorwurf, dem die bekannten Thesen von Habermas über die Pluralisierung, Differenzierung und multidimensionale Verflechtung sozialer Prozesse zugrunde liegen, führt in eine grundlegende Debatte über die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialismus unter den Bedingungen der Moderne und Postmoderne, die ich hier nicht auszuführen gedenke.

Zu den beiden anderen Kritikpunkten möchte ich mir aber doch einen knappen Kommentar erlauben. Zwar ist es richtig, dass es bis heute kein plausibles sozialistisches Wirtschaftsmodell gibt, das auch der Realität standzuhalten vermochte (Chomsky spricht davon, es lasse sich nicht sagen, wie eine lebensfähige, freie, humane postkapitalistische Ordnung errichtet werden könne, die bloße Vorstellung einer solchen Gesellschaft habe schon etwas Utopisches, [24]; Charles Taylor merkt an, unkontrolliertes Streben nach Wachstum, Konzentration, Mobilität, die Überbewertung instrumenteller Vernunft u.ä. seien auch Charkteristika der meisten bisher erprobten Sozialismus-Modelle gewesen [25]), aber es ist doch auch klar, dass die von dem als neoliberale Marktwirtschaft titulierten Kapitalismus organisierte Globalisierung nicht in der Lage ist, eine halbwegs gerechte Weltordnung zu etablieren. Zudem: unter den Bedingungen der Moderne bleibt ein Demokratiemodell, das sich auf das Feld des Politischen beschränkt, ohnmächtig, macht Demokratie zum Epiphänomen in noch stärkerem Maße, als es jetzt schon der Fall ist (ich erinnere an die Ausführungen von Bourdieu und Negri). Die Umstrukturierung der Öffentlichkeit, die immer weniger demokratisch ist, auch nicht mehr von der politischen Klasse, sondern der Logik des Verwertungsprinzips gesteuert wird (Chomsky und Herman haben in "Manufacturing Consent" herausgearbeitet, wie die Nachrichtenmedien der USA "den Interessen der Wirtschaft dienen und die Fähigkeit der Menschen, ihr Zusammenleben demokratisch zu regeln, (systematisch) untergraben [26]), kann nur aufgehalten werden, wenn die (demokratisch legitimierte) Politik bereit und in der Lage ist, dem Subsystem Ökonomie eindeutige Grenzen zu setzen. Die gegenwärtige Form von Öffentlichkeit unterminiert immer mehr die Voraussetzungen von Demokratie, indem sie darauf angelegt ist, systematisch politische Apathie zu produzieren. Zugespitzt gesagt: Vom medialen Infotainment sozialisierte Individuen sind weder potentielle Polisbürger noch citoyens, sondern - um Castoriadis’ Formulierung zu verwenden - individualistische Schafe [27].

Natürlich kommt ein sozialistisches Demokratiemodell nicht ohne starke Annahmen aus, die manchem angesichts sehr realer Erfahrungen als Überanstrengungen erscheinen mögen. Aber die Idee der Demokratie ist nach meiner Überzeugung mit außerordentlich starken Annahmen unvermeidlich verknüpft, wenn man sie nicht auf eine rhetorische Leerform reduzieren will. Eine autonome Gesellschaft ohne autonome Individuen, die alte und neue Formen der Verdinglichung abgestreift haben, ist nicht vorstellbar, will man nicht die Vorstellung vom Volk als dem Souverän ad absurdum führen. Agnoli formuliert: "Die Utopie ist der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die Weltgesellschaft befindet." [28] Lukács’ zugegebenermaßen außerordentlich utopisches Konzept der Räte steht in der Tradition einer Demokratietheorie, für die Demokratie eben nicht nur ein Verfahren ist, sondern eine Lebensform, die dem "Recht aller Menschen auf Glück aller Produzentinnen und Produzenten in realer Demokratie" (Braun) endlich Raum gibt .
VI. Schluß

Für Michael Koltan ist "Geschichte und Klassenbewußtsein" "der Anfang vom Ende des Marxismus als Emanzipationsbewegung. Ich vermag diese Einschätzung nicht zu teilen. Und dies aus zwei Gründen nicht:

1. Ich glaube nicht, daß der Marxsche Theorietyp aufgehört hat, eine wesentliche Emanzipationstheorie zu sein.
2. Und zweitens bin ich der Überzeugung, daß Lukács’ Verdinglichungstheorie zu dem gewiß schwierigen Erbe gehört, das uns das 20.Jhdt. hinterlassen hat.

Zu (1)

Haug stellt fest, der Marxismus lebe heute nur noch oder doch primär als akademischer fort. [29] Das mag (wenn auch nicht an der Ruhruniversität in Bochum) seine Richtigkeit haben, stellt aber gleichwohl einen unerträglichen Zustand dar. Er ist Symptom des Missverhältnisses in der Gegenwart; den aktuellen Weltzustand prägt ein völliges Ungleichgewicht zwischen einem expandierenden Weltwirtschaftssystem, das man mit den Kategorien "globaler High-Tec-Kapitalismus", postfordistischer Kapitalismus" (Haug), postindustrieller Kapitalismus (Braun) oder neoliberaler globaler Kapitalismus (Chomsky) beschreiben kann, und dem Fehlen einer funktionierenden kritischen Öffentlichkeit, für die das "Verschwinden einer weltweit operierenden Infrastruktur marxistischer Theorieproduktion und -diskussion" (Haug) charakteristisch ist.

Zu (2)

Die Vergegenwärtigung des reflexiven Potentials der Verdinglichungstheorie als einer Theorie der Verkehrungen, der prinzipiellen Negativität, der ideologisch-ideellen wie realen Abstraktionen, die die kapitalistische Warenproduktion nicht zufällig, sondern systemisch begleiten, gehört in das Zentrum der Bemühungen, dem "Protest und Widerstand gegen den total gewordenen Unfug einer vernetzten Ökonomie, die alles unterpflügt, was sich ihr in den Weg stellt"(H.M. Lohmann), eine Sprache zu geben. (Lohmann hat recht, wenn er schreibt: Es muß eine Sprache gefunden werden, die in der Lage ist, das hierzulande herrschende ’hochentwickelte Elend’(Volker Braun), welches mit dem gemeinen Elend in anderen Teilen der Welt direkt zusammenhängt, überhaupt erst einmal zu beschreiben (...) und erfahrbar zu machen." [30]) Und indem sich marxistische Wertformanalyse und Lukácssche Verdinglichungstheorie reflexiv auf den neuen globalen Weltzustand einlassen, wird der Marxismus selbst wieder klug und sprachmächtig (Lohmann).

Rüdiger Dannemann, Verdinglichung, Warenfetischismus und die Ohnmacht der Demokratie (Vortrag, rru 2001).
Zum Thema Fetischismus vgl. auch Der Warenfetisch und der Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert, Thesen zu Fetischcharakter der Ware und Austauschprozess, Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne