Christoph Hesse

Kulturindustrie

Um wenige Begriffe der Kritischen Theorie ranken sich so viele interessierte Mißverständnisse wie um den der Kulturindustrie. Der Aufsatz „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“, den Adorno in den vierziger Jahren im amerikanischen Exil verfaßt hat, ist längst ein Klassiker, in den zuständigen Seminaren allerdings eher berüchtigt als berühmt. Daß die Thesen über Kulturindustrie wahlweise unterkomplex oder übertrieben und auf jeden Fall kulturkonservativ seien, gehört zu den geläufigsten Einwänden bis heute. Zumindest den Vorwurf der Übertreibung hätte Adorno gerne entgegengenommen, der es selber als eine seiner Maximen bezeichnete, das Düstere zu übertreiben in der Gewißheit, „daß heute überhaupt nur Übertreibung das Medium von Wahrheit sei.“ (Adorno 1959:567) Mit dem Begriff Kulturindustrie haben Horkheimer und Adorno der Kritik der modernen Massenkultur ihren bis heute schärfsten Ausdruck gegeben. Warum in der „Dialektik der Aufklärung“ von 1947 Kulturindustrie den vormals gebräuchlichen Begriff der Massenkultur ersetzt hat – ebenso wie das entsprechende Kapitel dürfte diese Änderung vor allem auf Initiative Adornos zurückgehen –, hat dieser später nachdrücklich als Differenz in der Sache ausgewiesen. Man sei darauf bedacht gewesen, „von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst.“ (Adorno 1963:337) Umgekehrt dürfte einiges von dem Unbehagen, das am Begriff Kulturindustrie bis heute haftet, auch daher rühren, daß er gerade den Gegensatz von Kultur und Industrie polemisch als schlechte Identität behauptet. Das läßt sich leicht heraushören: denn als Verbund von Massenmedien, gleich ob davon auch kritisch gesprochen wird, kommt der bezeichnete Sachverhalt allemal besser weg als eine Kulturindustrie, die schon dem Wortklang nach an der Last des 19. Jahrhunderts zu tragen hat: „So ist die ‚Kulturindustrie’ keine Theorie der Kultur“, meint z.B. Fredric Jameson, „sondern die Theorie einer Industrie, eines Zweiges der miteinander verquickten Monopole des Spätkapitalismus, der Geld aus dem schlägt, was für gewöhnlich Kultur genannt wurde.“ (Jameson 1992:182) Wer wie Jameson die Industrie einseitig hervorhebt, zerbricht allerdings aus anderer Richtung die dialektische Spannung des Begriffs. Dagegen betont Adorno selbst: „Der Ausdruck Industrie ist dabei nicht wörtlich zu nehmen. Er bezieht sich auf die Standardisierung der Sache selbst – etwa die jedem Kinobesucher geläufige der Western – und auf die Rationalisierung der Verbreitungstechniken, nicht aber streng auf den Produktionsvorgang.“ (Adorno 1963:339)

Daß Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ statt von Massenkultur von Kulturindustrie sprechen, erweist sich im Rückblick als vorausahnungsvolle Korrektur. Wo heute Begriffe wie Massenkultur oder Massenmedien den der Kulturindustrie revidieren, tun sie das nicht nur einer vielleicht vorgeschobenen Operationalität wegen. Meist auch wird die kritische Absicht, die mit der Rede von Kulturindustrie verbunden ist, mit der ideellen Wiedereinsetzung der Massen unter der Hand entkräftet. Wer so von Massenkultur spricht, könnte zweierlei verfolgen: entweder, wie Konservative es hinlänglich getan haben, die Masse der Menschen, die durch die Popularisierung der Kultur ins Geschehen einbezogen worden ist, verächtlich machen, indem an einem klassengebundenen – und geschichtlich längst obsolet gewordenen, weil von der Kulturindustrie selbst eingeholten – Begriff von bürgerlicher Kultur emphatisch festgehalten wird, oder aber, heute wahrscheinlicher, das Moment demokratischer Teilhabe betonen, das die Kultur der Masse im Unterschied zu der der Klasse durchgesetzt habe, ohne indessen die Demokratisierung als solche auf dem Hintergrund der antagonistischen Gesellschaft auf ihren emanzipatorischen Gehalt zu prüfen. In dieser im Vergleich liberalen Auffassung verschiebt das „Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, bereits den Akzent ins Harmlose.“ (Adorno 1963:337f.) Der unreflektiert positive Bezug auf die Masse, die an Medien und Kultur teilhaben soll, ohne daß Klarheit darüber gegeben würde, wie solche Teilhabe gesellschaftlich und nicht bloß unter funktionalistischen Gesichtspunkten erweiterter Kommunikation vonstatten geht, erniedrigt die Masse implizit noch einmal zu dem, wozu erst die Kulturindustrie sie macht: zu Kunden. Der formale, bloß quantitative Aspekt ihrer Verbreitung soll für den demokratischen Gehalt der Kultur bürgen, auf die der besonnene Konsument erst durch sein Votum am Markt, sodann durch individuelle Aneignung Einfluß nehme. Aus falschen Motiven hätte vielleicht der Reaktionär in seinem Widerwillen gegen das ameisenhafte Verhalten der Massen mehr von deren gesellschaftlicher Lage eingefangen, als wer den zu solcher Kommunikation Genötigten um jeden Preis besondere Bedeutung beimessen wollte.
Die Kritik der Kulturindustrie kann mit Douglas Kellner als „eine streng an Marx orientierte Theorie der Massenmedien und Massenkultur“ bezeichnet werden; sie ist insofern „als ein Kernstück der Argumentation in der ›Dialektik der Aufklärung‹ anzusehen.“ (Kellner 1982:485) Technische Rationalität als immanente Verkehrung aufklärenden Denkens wird in der Kulturindustrie, indem sie die schönen Künste und überhaupt den Geist in Beschlag nimmt, eigentlich erst so recht als skandalös empfunden. Die Rationalisierung der künstlerischen Verfahrenstechniken – man denke etwa an das perspektivische Bild, das wohltemperierte Klavier, den bürgerlichen Roman oder Lessings Neuinterpretation der aristotelischen Poetik für das Drama – geht sukzessive mit der Verwandlung der Kunstwerke von Kultobjekten in Waren zusammen. Was man klassischerweise bürgerliche Kunst nennt, wäre so in einer Art Zwischenraum anzusiedeln, wo sie den einen Zwang abgeschüttelt und den anderen noch nicht recht zu spüren bekommen hat. Der selbstbestimmten Verfügung des Künstlers über die Mittel, Ausdruck von Freiheit der Kunst, gesellt sich spätestens im 19. Jahrhundert die heteronome Macht des Marktes, die jene Freiheit zurückdrängt und im Wirtschafts- und Verwaltungsapparat der Kulturindustrie schließlich zur bloßen Albernheit degradiert. Autonom ist hier weder mehr der „Künstler“ noch der Adressat. Auf die Aufklärung, die durch Vernunft gewonnene Autonomie der Kunst, folgt Mythologie auf erweiterter Stufenleiter: die Mimikry nicht mehr an die Naturgewalten, sondern an die Gewalt der zweiten Natur, zu welcher die kapitalistische Gesellschaft den Menschen geworden ist. In der Kulturindustrie hat der Umschlag von Aufklärung in Mythos buchstäblich System.
Technische Verfügung über das künstlerische Material terminiert in der massenweisen Produktion von Standardgütern, deren Aufwand jeweils wohlkalkuliert ist; gesellschaftliche Freiheit der Kunst, die ein Privileg erst des Adels, später des Bürgertums war, hat die Masse der Bevölkerung als Konsumenten ergriffen um den Preis, daß die Kunst, die nun allen geboten, beinahe aufgenötigt wird, ihre Gestalt radikal verändert hat, ihr ästhetischer Reichtum auf ein je nach Medium überschaubares Ensemble von Signalen zusammengeschrumpft ist.
Von hier aus können Horkheimer und Adorno gegen den Augenschein der Unübersichtlichkeit der modernen Kultur polemisch das Gegenteil feststellen: „Die soziologische Meinung, daß der Verlust des Halts in der objektiven Religion, die Auflösung der letzten vorkapitalistischen Residuen, die technische und soziale Differenzierung und das Spezialistentum in kulturelles Chaos übergangen sei, wird alltäglich Lügen gestraft. Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus. Jede Sparte ist einstimmig in sich und alle zusammen. Die ästhetischen Manifestationen noch der politischen Gegensätze verkünden gleichermaßen das Lob des stählernen Rhythmus.“ (Horkheimer/Adorno 1947:144) Schon die ersten Sätze des Kapitels über Kulturindustrie stehen quer zu ungefähr allem, was während der letzten zwanzig Jahre über Kultur geschrieben worden ist. Während Kultur heute vor allem als Patchwork verstanden wird, worin ganz verschiedene Kulturen koexistieren und kommunizieren, beschreiben Horkheimer und Adorno sie als System. Der Ausdruck erinnert nicht zufällig an das ökonomische. Daß aber nicht die Ökonomie etwa hinter der Kultur als deren Strippenzieher zu enttarnen wäre, sondern die Kultur selber System ist in dem Sinne, daß sich das ökonomische in der Kultur als seinem Gegenteil realisiert, gehört zu den dialektischen Einsichten, die sich vielleicht gerade den rigorosen Übertreibungen des Kapitels über Kulturindustrie verdanken. Die Kultur als System löst erst ein, was die Rede von Kultur im Singular im Grunde schon vorgezeichnet hat. War diese selbst „immer schon wider die Kultur“, ist „die industrialisierte, die konsequente Subsumtion (...) diesem Begriff von Kultur ganz angemessen.“ (ebd. 156)

Damit verhält sich die Kritik der Kulturindustrie zur empirischen Massenkultur durchaus ähnlich, wie man Marx‘ allgemeinen Begriff des Kapitals im Verhältnis zur Oberfläche der kapitalistischen Wirtschaft und zur bürgerlichen Gesellschaft insgesamt zu verstehen hat. Das „begriffliche Gerippe“ (ebd. 145), das sich für Horkheimer und Adorno als Skelett der Massenkultur abzuzeichnen beginnt, ist auch als Hinweis auf das eigene theoretische Vorgehen zu nehmen: die Darstellung der Kulturindustrie als eines gesellschaftlichen Produktionsprozesses, der in seinem idealen (oder besser: katastrophalen) Durchschnitt gefaßt wird. Auch die Kulturindustriekritik weist insofern ihre „wesenslogischen“ Züge auf. Jede unvermittelte Konfrontation mit der empirischen Massenkultur müßte darum etwa so fehlgehen wie eine versuchte Verifikation der Wertlehre an den allgängigen Marktpreisen. Die Kulturindustrie als System entzieht sich dem Betrachter ebenso wie der Warenwert dem Verkäufer. Weder aber der kapitalistische Produktionsprozeß, den Marx darstellt, noch das „begriffliche Gerippe“ der Kulturindustrie sind darum mystische Konstruktionen, die willkürlich aus der Wirklichkeit herausgeklaubt wären.
Gemein ist der Kritik der politischen Ökonomie und der der Kulturindustrie der Anspruch, jeweils dasjenige benennen zu können, was das Ganze schlecht zusammenfügt, sich aber darin verkehrt darstellt: in der Marxschen Wertformanalyse der Wert einer Ware, der nur in seinem Gegenteil, im Gebrauchswert einer anderen Ware, erscheint; bei Horkheimer und Adorno, gleichsam auf einer sekundären Ebene, der alles seinen Gesetzen gleichmachende Ökonomismus der kapitalistischen Gesellschaft, der sich in der empirischen Vielfalt der Kultur als seinem Gegenteil realisiert.
Von hier aus würde vielleicht verständlich, was die empirische Beobachtung stets als Überzeichnung zurückweisen muß: die Tendenz zur „totalen“ Vergesellschaftung, die Einbeziehung noch der privaten Reproduktion und Muße ins ökonomische System, das jene als investierte Freizeit des einzelnen berechenbar macht und sich jede menschliche Regung einordnet. Daß so etwas wie autonome Kunst und unabhängiges Denken daneben – tatsächlich mittendrin – weiter existieren, bestätigt demnach nur das allgemeine Gesetz, nicht unähnlich dem schwankenden Marktpreis, den schon Marx nicht als möglichen Einwand, sondern lediglich als Erscheinungsform eines sich mit blinder Gewalt durchsetzenden Wertgesetzes aufgefaßt hat.
Die gedankliche Figur, die hier zugrunde liegt, ist der Hegelschen von der Identität von Identität und Nichtidentität negativ nachgebildet: das Ganze, das Identitisches und Nichtidentisches unter sich beschließt und als Identität ausgibt, ist eben darum das Unwahre. Bloß als negative Einheit ist Totalität mehr zu denken. Gegen einen solchen Begriff mit dem Hinweis auf Nichtidentisches zu argumentieren, ist schlechterdings absurd. Noch im Nichtidentischen die Herrschaft des Allgemeinen aufzuzeigen, wäre Aufgabe einer dialektischen Kritik, die gegen das bloße Dasein von Differenz mißtrauisch bleibt.

Wer diese „dialektische Methode“ ignoriert, wird in der Kritik von Kulturindustrie womöglich nur eine Theorie der Massenmanipulation sehen, die sich sodann als schlichte Vorstellung von Herrschaft als Priestertrug zurückweisen läßt. Auch die grob leninistischen Interpretationen von Kulturindustrie übrigens, wie sie im Gefolge der Studentenbewegung Verbreitung fanden, dürften diesem Mißverständnis zugearbeitet haben.
Zwar wird in der Kritischen Theorie tatsächlich auch von Manipulation gesprochen, doch ruht der dort entwickelte Begriff gesellschaftlicher Herrschaft nicht maßgeblich auf dem Tatbestand etwa einer bewußt verzerrten Kommunikation. Im Gegenteil setzt Manipulation, als wohlorganisierter Einsatz kollektiver Symboliken oder schlicht inszenierter Propaganda, die autoritäre Disposition der in Massen zusammengefaßten Individuen als Moment antagonistischer Vergesellschaftung je schon voraus. Der politisch manipulative Zugriff kann jene „nur“ aufgreifen, organisieren und einer gemeinsamen Zielsetzung unterstellen. Bei Adorno heißt es dazu unmißverständlich: „Die geläufige Rede von der ‚Mechanisierung’ ist trügend, weil sie diesen als ein Statisches denkt, das durch ‚Beeinflussung’ von außen, Anpassung an ihm äußerliche Produktionsbedingungen gewissen Deformationen unterliege. Aber es gibt kein Substrat solcher ‚Deformationen’, kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Mechanismen von außen bloß einwirkten: die Deformation ist keine Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert: sie ‚erblich belastet’.“ (Adorno 1951: Aph. 147)
So unbestreitbar bei Adorno regelmäßig von Manipulation die Rede ist, so sehr ist zu beachten, daß auf Grundlage seiner eigenen sozialpsychologischen Grundannahmen davon schwerlich im Sinne eines schlichten Priestertrugs gesprochen werden kann. Zum Verhältnis von gesellschaftlich vermitteltem Zwang und der Willkür der in der Kulturindustrie Beschäftigten heißt es dort: „Ist auch die Planung des Mechanismus durch die, welche die Daten beistellen, die Kulturindustrie, dieser selber durch die Schwerkraft der trotz aller Rationalisierung irrationalen Gesellschaft aufgezwungen, so wird doch die verhängnisvolle Tendenz bei ihrem Durchgang durch die Agenturen des Geschäfts in dessen eigene gewitzigte Absichtlichkeit verwandelt.“ (Horkheimer/Adorno 1947:149) Manipulation wäre demnach nicht als schematische Subjekt-Objekt-Beziehung vorzustellen, die man dann diskursanalytisch oder anderweitig auflösen kann, sondern als spezifische Organisation eines schon gesellschaftlich prädisponierten Bewußtseins im Interesse politischer Herrschaft zu denken, gleichsam als Ideologisierung bereits vorhandener Ideologie: ein Prozeß, an dessen Zustandekommen die subalternen Subjekte im übrigen ebenso wie die angerufenen Instanzen Anteil nehmen.

Die Kritik der Kulturindustrie ist eine der Produktion, die mit den Konsumenten als Bedeutungsträgern zunächst nur negativ rechnet. Nicht zuletzt deswegen hat Adorno den Begriff Massenkultur durch den der Kulturindustrie programmatisch ersetzt. Jede in diesem Sinn oberflächliche Beschreibung der Massenkultur unterschlägt, daß nicht die Masse als die irgend zu fassende Summe ihrer mit Willen und Bewußtsein ausgestatteten Individuen es ist, von der die Kultur maßgeblich abhängt. Obwohl die so organisierte Kultur „unleugbar auf den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Millionen spekuliert, denen sie sich zuwendet, sind die Massen nicht das Primäre sondern ein Sekundäres, Einkalkuliertes; Anhängsel der Maschinerie. Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt.“ (Adorno 1963:337)
Zumal in den Cultural Studies wurde die ihrerseits schematische Betrachtung des „Schemas der Massenkultur“ (vgl. Adorno 1942), vor allem aber die mangelnde Berücksichtugung der Rezeptionsseite kritisiert. Das Argument ist, einfach ausgedrückt, daß auch ein standardisiertes Format ganz verschiedene Lesarten zulasse, je nachdem wer sich das Produkt unter welchen Umständen und in welcher Absicht aneigne, Bedeutung also nicht schon durch den „Text“ von vornherein festgelegt sei.
Dem würde man oberflächlich getrost zustimmen können, ohne deswegen allerdings die Kritik der Kulturindustrie als überholt fallenlassen zu müssen. Daß sich auch bei weitgehend restringierter Kommunikation Bruchstellen auftun, ist unzweifelhaft – zu zweifeln aber daran, ob die mitunter an solche Bruchstellen geknüpften Erwartungen berechtigt sind: sowohl qualitativ, was es mit den bewußtseinsbildenden Effekten etwa der sogenannten oppositionellen Decodierungen auf sich hat, als auch quantitativ, in welchem Maße mit solchen subversiven Aneignungen gesellschaftlich überhaupt zu rechnen ist. Konstruiert man die Masse der Massenkultur nicht nach abstrakten Kommunikationshypothesen, sondern nimmt sie empirisch in der Breite, rangieren die Rezipienten tatsächlich vor allem als Kennziffern für die Marktforschung, die ums Dabeisein jedes einzelnen als Exemplar einer prospektiven Kundschaft buhlt, ihre Kunden aber nicht ernsthaft als Mitproduzenten von Bedeutung anspricht. Letzteres spielt freilich immer hinein, insoweit jede Bedeutung vom Empfänger mitproduziert werden muß. Auch für die Kulturindustrie gilt, daß deren behauptete Identität mit der Masse der Konsumenten, wie Adorno später bemerkt hat, „nicht so über jedem Zweifel ist, wie der Kritische denkt, solange er auf der Produktionsseite verbleibt und nicht die Rezeption empirisch überprüft.“ (Adorno 1966:360) Nur ist diese Beteiligung des Rezipienten am Produktionsprozeß selbst schon hinlänglich routinisiert und einzelne Wahrnehmungsabläufe zu fixen Schemata geronnen. Eine wie auch immer unvorhergesehene oder sogar bewußt gegenläufige Aneignung der Botschaft dürfte unter den gegebenen Bedingungen ein insgesamt eher verschwindendes Phänomen bleiben, das als solches zudem weniger bei den klassisch Subalternen als bei interessierten Intellektuellen zu finden ist. Ob man es subversiv nennen mag, wenn ein Angehöriger einer gesellschaftlichen Minderheit sich in einem beliebigen Filmbeitrag statt mit dem vorgesehenen Helden mit dem Schurken identifiziert, ist Ermessenssache. Die Frage nach Publikumsverhalten und Bewußtseinsbildung ist aber vor allem eine empirische, die sich nicht durch die Konstruktion hypothetischer Kommunikationsmodelle überspringen läßt. Bereits an Stuart Halls Klassiker „Encoding/Decoding“ wird diese Verlegenheit deutlich. Wenn sich Hall mit seinem Vorhaben ausgerechnet auf Marx bezieht, tut er dies zu Unrecht. Nicht weil der Zusammenhang von Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion als Anschauungsmodell illegitim wäre, sondern weil die Einheit von Produktion und Konsumtion, von der Marx spricht, der Produktion, nicht der Konsumtion den Vorrang einräumt. Unter den Bedingungen von Kulturindustrie wird man davon ausgehen müssen, daß nicht nur die Bedürfnisse der Menschen sich weithin nach den Produkten der Kulturindustrie richten, sondern dadurch auch deren Urteilsvermögen in relevantem Maße geprägt und auf vorhandene Deutungsmuster hin orientiert wird, weshalb „kritische“ Aneignungen der Kulturprodukte, von der Nachrichtensendung bis zum abendfüllenden Spielfilm, eine ähnlich prekäre Angelegenheit bleiben dürften wie früher das Klassenbewußtsein, von dem man ebenfalls geglaubt (oder gehofft) hat, daß es irgendwo schon vorhanden sein müsse. Wer Decodierung statt als routinierte Prozedur als subversive Strategie vorstellen will, wird zumindest die realen Kommunikationsverhältnisse einstweilen als ohrenbetäubendes Hintergrundgeräusch voraussetzen müssen. Auch die jeweils oppositionellen Bedeutungen, wie immer die im einzelnen aussehen mögen, müßten zunächst nach ihren konkreten gesellschaftlichen Bedingungen beurteilt werden, statt daß man ins Blaue subversive Käufer und Konsumenten erstehen läßt und dadurch letzten Endes die gewünschte Subversion als Verhaltensweise zur integrationsfähigen Spielmarke kultureller Identitäten verflacht. Bevor die Kulturindustrie durch positive Setzungen übersprungen wird, und sei es auch mit Hilfe versierter Kommunikationsstrategien, die selbst auf die Überwindung solcher Entmündigung hinauswollen, wäre sie als Sachverhalt ernst zu nehmen. Als Korrektiv einer schlecht hermetischen Kritik käme womöglich erst der Gegenentwurf zur Geltung: etwa im Sinne jener von Adorno vorgezeichneten dialektischen Konstellation, worin das ersuchte Nichtidentische des Begriffs durch die Barrieren des Begriffs hindurch umkreist wird, nicht unvermittelt dagegen behauptet.

Die Allgegenwart der Macht, die Michel Foucault im Bild des Panopticons veranschaulicht hat, führt in den poststrukturalistischen Kulturtheorien zu dem paradoxen Resultat, daß die allseits „vermachteten“ Beziehungen gerade deswegen gegenläufige Tendenzen ermöglichen, wenn nicht treibhausmäßig hervorbringen sollen. Die Schnittstellen der Kommunikation, das heißt: die Menschen, werden – in Gegenrichtung zur sonst erklärten Subjektkritik - als unberechenbare Bedeutungsträger aufgeladen, die ihr eigenes Spiel gegen jede „nur konstruierte“ Objektivität treiben könnten. Die sonst beargwöhnte Subjektkonstitution wird nun umgekehrt zur subversiven Selbstkonstitution: sei es gegen den „Text“ oder mit dem „Text“ gegen dessen hegemoniale Bedeutung. Daß der in den Cultural Studies gängige Kulturbegriff mitunter bloß noch einen unverbindlichen Pluralismus, ein mehr oder weniger beziehungsloses Patchwork koexistierender Kulturen bezeichnet, hat seinen Grund nicht zuletzt in einem Relativismus, der die Produkte selbst für einerlei und Bedeutung letztlich für arbiträr erklärt. Damit ist die Rezeptionstheorie, die selber mit dem Anspruch auf Differenzierung angetreten war, allerdings noch unschärfer geraten als eine von oben herab formulierte Kritik der Kulturindustrie. Auf eine einfache Formel gebracht, heißt das: Alle können zwischen allen Angeboten wählen und sich ihren Teil dabei denken. Mit seiner Skepsis gegen solchen fadenscheinigen Pluralismus hatte Nietzsche allemal recht, als er meinte, es sei „gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. - Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich.« (Nietzsche 1882: Aph. 174) Im übrigen weiß man, daß die sogenannten Abweichungen, auf die sich gerne berufen wird, als bloße Positionsverschiebungen innerhalb der Kulturindustrie auf diese schlimmstenfalls wie „Reinigungskrisen“ wirken: nachdem eine weitere Subkultur erfolgreich integriert hat, funktioniert der Betrieb nur desto besser, ökonomisch sowohl wie ideologisch.
Dieter Prokop schreibt über die begeisterten Reaktionen des Massenpublikums auf einen Blödelsong von Stefan Raab: „Solange beim Publikum das derart Eigensinnige erfolgreicher ist als das Ordentliche, Konformistische, kann man hoffen.“ (Prokop 2003:289) Worauf, bleibt das Geheimnis derer, die Adorno vielleicht für eine „Wienerische Spezialität mit einem Stich ins Oberkellnerhafte“ (Adorno 1951: Aph. 20) halten und sich selbst darüber zu wundern aufgehört haben, warum die Menschen unbeirrt „für baren Unsinn das Martyrium erleiden“ (Adorno 1964:422).

Literatur

 Adorno, Theodor W.
(1942): Das Schema der Massenkultur, in: Gesammelte Schriften (GS), Bd. 3, Frankfurt a.M. 1997, S. 299-335
(1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, GS 4
(1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, GS 10, S. 555-572
(1963): Résumé über Kulturindustrie, GS 10, S. 337-345
(1964): Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S. 413-526
(1966): Filmtransparente, GS 10, S. 353-361
 Hall, Stuart (1999): Kodieren/Dekodieren, in: Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, hg. v. R. Bromley, U. Göttlich und C. Winter, Lüneburg, S. 92-110
 Horkheimer, Max/ Theodor W. Adorno (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, zit. n. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1987
 Jameson, Fredric (1992): Spätmarxismus. Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg
 Kellner, Douglas (1982): Kulturindustrie und Massenkommunikation. Die Kritische Theorie und ihre Folgen, in: Sozialforschung als Kritik, hg. v. W. - - Bonß und A. Honneth, Frankfurt a.M., S. 482-515
 Nietzsche, Friedrich (1882): Die fröhliche Wissenschaft,in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 3, München 1999, S. 343-651
 Prokop, Dieter (2003): Mit Adorno gegen Adorno. Negative Dialektik der Kulturindustrie, Hamburg

<doc247|left>

Manuskript des Einleitungsvotrages des Seminars „Kulturindustrie“ bei den „Adorno-Tagen, Dortmund“ – 13.9.2003