Sven Ellmers

Moralkritik und normative Ethik bei Marx

Marx hat keine systematische Abhandlung zur Moral und Moralphilosophie verfasst. Gelegentlich erwähnt er sie zusammen mit anderen sozialen Teilbereichen, Institutionen oder Bewusstseinsformen, denen er den „Schein der Selbstständigkeit“ (MEGA² I/5, 136) nehmen will, indem er sie auf den Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bezieht. Moral wird hier in einem Atemzug mit Gesetzen, Religion, Metaphysik, Wissenschaft, Familie und Kunst genannt (vgl. ebd., 135, MEGA² I/2, 264, MEW 4, 480). Die Stoßrichtung ist stets dieselbe: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, & das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“ (MEGA² I/5, 136) Nicht um die Spezifik der Moral und Moralphilosophie geht es hier, sondern um das allgemeine Verhältnis von materieller und geistiger Produktion oder von Basis und Überbau. Eine Analyse dieser und vergleichbarer Passagen würde folglich nur in einer weiteren Abhandlung über den Historischen Materialismus münden.

Stattdessen möchte ich mich den Stellen widmen, in denen Moral und Moralphilosophie ein besonderer Gegenstand der Betrachtung sind. Dabei wird sich zeigen, dass der frühe Marx der Moral und Moralphilosophie nicht etwa kritisch gegenüberstand, weil er Determinist gewesen wäre (2.), sondern weil er ihre Existenz als Symptom entfremdeter Verhältnisse deutete (3.). Beim späten Marx findet sich diese soziologische Fundamentalkritik nicht mehr. Vielmehr geht er mit spezifischen moralphilosophischen Vorstellungen und Prinzipien ins Gericht – wie in seiner Auseinandersetzung mit Proudhons Kapitalismuskritik (4.) oder leistungsbezogenen Sozialismusvorstellungen (5.). Marx begibt sich hier implizit auf das Terrain der normativen Ethik und gibt sich als relationaler Egalitarist und ethischer Perfektionist zu erkennen. Nach einem Rekurs auf die Entfremdungstheorie des frühen Marx (6.) werde ich dafür argumentieren, dass ihre normativen Prämissen auch für den späten Marx noch verbindlich waren (7.). Abschließend werde ich dem Vorwurf entgegentreten, Marx sei nicht nur sozialontologischer Holist, sondern auch sozialethischer Kollektivist gewesen (8.).

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