Ingo Stützle
To be or not to be a Keynesian – ist das die Frage?
Kritik und Grenzen wirtschaftspolitischer Alternativen
Mit der Krise wurden auch die passenden Theorien an die Oberfläche des wirtschaftspolitischen Diskurses gespült. Während Karl Marx ein Platz im Feuilleton zukam, wurde John Maynard Keynes etwas ernster genommen. Dessen Anziehungskraft wirkte jedoch nicht ungebrochen. Ganz im Gegenteil: Die durch die Krise erzwungenen staatlichen Feuerwehreinsätze sorgten bei vielen Apologeten freier Märkte für Unbehagen – schon früh wurde vor staatlicher Überregulierung gewarnt (vgl. Plickert 2008). Keynes‘ Theorie wurde so zu einem zentralen Feld der Auseinandersetzung darüber, wie der Kapitalismus ‚vernünftig‘ zu regieren sei. Während die einen bei Keynes zentrale Säulen der „freien Marktwirtschaft“ in Gefahr sehen, formulieren andere hingegen die Hoffnung, dass Keynes einen Ausweg aus einer ungerechten und instabilen Wirtschaftsordnung weisen könne. Wiederum andere wollen gar mit Keynes die schwindende Legitimation des Neoliberalismus in eine Perspektive jenseits des Kapitalismus überführen.
Eine Auseinandersetzung mit Keynes steht somit ebenso an, wie mit dem, was im Rahmen der sogenannten neoklassischen Synthese daraus gemacht wurde. Denn dem Keynes, der im Zuge der gegenwärtigen Krise so manches Feuilleton erfreute, wurden schon vor längerer Zeit die Zähne gezogen. Auch diskussionswürdig erscheint, warum Keynes für viele Linke und SozialistInnen als antikapitalistisches Maskottchen herhalten muss, da der britische Ökonom den Kapitalismus gar nicht als das zentrale Problem identifizierte und ihn vielmehr gegen den Sozialismus zu verteidigen gedachte.
Keynes‘ Kapitalismus
Die keynessche Theorie ist, von der marxschen Ökonomiekritik einmal abgesehen, wohl der radikalste Bruch mit den theoretischen Grundlagen der (Neo-) Klassik. Dies lässt sich an zwei Punkten festmachen: Einmal an der Nicht-Neutralität des Geldes; zum anderen überwindet Keynes eine betriebswirtschaftliche Sichtweise auf die Wirtschaft aufgrund der Überzeugung, dass der geldvermittelte Tausch eine effiziente Allokation auf Märkten nicht immer ermöglicht.
In der ökonomischen Klassik wie in der Neoklassik spielt Geld keine konstitutive Rolle. Beide gehen im Prinzip von einem geldlosen Gütertausch aus, der nach dem sayschen Gesetz funktioniert. Diesem zufolge schafft sich ein Angebot immer eine Nachfrage und Märkte. Geld sei langfristig neutral, und mit einer Veränderung der Geldmenge verschiebe sich nur das Preisniveau. Märkte sind homogen, gleichrangig und effizient, weshalb ein Ungleichgewicht nicht aus den Märkten selbst zu erklären ist, sondern nur durch externe Schocks.
In seiner Konzeption einer monetären Theorie der Produktion ist jedes ökonomische Handeln geldvermittelt (Keynes 1933). So simpel es klingt, so radikal erschüttert diese monetäre Konzeption Eckpfeiler der (Neo)Klassik. Durch die zentrale Stellung des Geldes kommt auch dem Vermögensmarkt eine dominierende Rolle gegenüber anderen Märkten zu. Daraus lässt sich eine Hierarchie der Märkte [1] begründen: Die Kosten für Kredite (Zins) und die zu erwartende Renditen bestimmen das Volumen, das auf dem Vermögensmarkt für Investitionen mobilisiert wird. Diese Investitionen stellen schließlich den Umfang der für die Produktion mobilisierten Produktionsmittel und Arbeitskräfte dar. Damit steht bei Keynes nicht der Preismechanismus der einzelnen Märkte, sondern die Disposition über Geld am Vermögensmarkt im Vordergrund.
Hier kommt der Zins ins Spiel, der nach Keynes Kritik an der (Neo)klassik nicht einfach ein Gleichgewicht zwischen Sparen und Investieren herstellt. Der Zins ist vielmehr ein Ausdruck für den Umstand, dass im Kapitalismus wirtschaftliche Entscheidungen immer unter Bedingungen von Unsicherheit – und nicht einfach kalkulierbarem Risiko – getroffen werden müssen. Gegen die unklare Zukunft sichern sich die WirtschaftsteilnehmerInnen mit Geld ab. Sowohl das Kapital als auch Privathaushalte können dem Wirtschaftskreislauf Geld vorenthalten.
Gleichzeitig gilt: Diejenigen, die Geld nachfragen, sind nicht zu jedem Zinssatz bereit, Geld zu leihen. Der Zins sei deshalb auch wesentlich davon abhängig, so Keynes, wie hoch die Bereitschaft der Geldvermögensbesitzer ist, nicht unmittelbar über Geld verfügen zu können. Zins ist somit derjenige Preis, der den Verzicht auf unmittelbare Liquidität prämiert. Geld ist kein neutraler Schleier, vielmehr verknüpft es nicht nur Gegenwart und Zukunft, sondern hebt zugleich die Trennung zwischen realer und monetärer Sphäre in Form des Zinses auf (Keynes 1936: 247).
Keynes kann vor diesem Hintergrund nicht wie die (Neo)klassik effektive und gleichberechtigte Märkte einfach zu einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive addieren. Nach Keynes ist eine reibungsfreie Wirtschaft mit Vollbeschäftigung eine hoch voraussetzungsvolle Angelegenheit und eher Zufall. Allerdings kann wirtschaftspolitisch etwas nachgeholfen werden: Entweder durch (kreditfinanzierte) zusätzliche staatliche Nachfrage oder durch Veränderungen am Vermögensmarkt. Idealerweise soll die dann einsetzende Prosperitätsphase die staatlichen Kosten dieser Starthilfe refinanzieren. Diese wirtschaftspolitische Position macht Keynes für viele Liberale bis heute suspekt.
Von Keynes’ Theorie zum Keynesianismus
Das einschneidend Neue einer Theorie wälzt nur selten sofort die theoretischen Grundlagen und Prämissen einer Wissenschaft um. Die Hegemonie bestimmter Theorien, die sich in Forschungs- und Lehrprogrammen staatlicher Apparate und Hochschulen materialisiert hat, wird nicht so ohne weiteres außer Kraft gesetzt. [2] So auch bei Keynes. Der Lehrbuch-Keynes, der uns bis heute an den Hochschulen begegnet und im Feuilleton das bürgerliche Unbehagen mit dem Kapitalismus zum Ausdruck bringt, stellt im Wesentlichen eine neoklassische „Einverleibung“ dar, eine Strategie, die nach Thomas Kuhn (1962: 90ff.) für prekär gewordene theoretische Paradigmen durchaus gängig ist. Der verbreitete Standardkeynesianismus der sog. „neoklassischen Synthese“ bewahrt gerade jenen neoklassischen Kern, den Keynes in seinen Grundfesten zerstören wollte.
Langfristig gilt im Standardkeynesianismus das Gleichgewicht der Neoklassik, die Märkte befinden sich im Gleichgewicht und die Produktionsressourcen sind ausgelastet; kurzfristige Ungleichgewichte werden „keynesianisch“ erklärt. Keynes‘ zentraler Einsatzpunkt geht dabei jedoch verloren. Das Geld und die damit verarbeite Unsicherheit spielen keine konstitutive Rolle mehr. Das hat auch weitere Konsequenzen für die Auffassung der kapitalistischen Ökonomie: Die besondere Rolle des Vermögensmarkts verschwindet, die Hierarchie der Märkte löst sich auf, das Kreditvolumen wird als ein festes Volumen vorausgesetzt und ist nun allein vom Sparvolumen abhängig – ganz so wie in der Neoklassik. Für die Beschäftigungspolitik hat dies – verkürzt dargestellt – zwei Konsequenzen: Zum einen verändert sich mit dem Zinssatz unmittelbar auch das Beschäftigungsvolumen (da abhängig von den Investitionen); zum anderen ist es der Zentralbank möglich, durch eine Erhöhung der Geldmenge den Beschäftigungsstand beliebig zu verschieben (Heine/Herr 2000: 469ff.).
Nur eine Frage der Interpretation?
Zwar stellte Keynes‘ Kritik einen Angriff auf die Fundamente des Mainstreams dar, zugleich bot sie aber auch eine Chance, den Erklärungsnotstand der eigenen Theorie zu beseitigen. Für die an Marx orientierte Ökonomiekritik war Keynes eine große Herausforderung, die bis heute nicht so recht bewältigt wurde. Für die einen war und ist Keynes gefährlich, weil er die Instabilität des Kapitalismus anerkannte und als Vertreter der bürgerlichen Klasse für Reformen und staatliche Regulierungen eintrat, um so den Kapitalismus vor den selbstzerstörerischen Kräften zu schützen (vgl. z.B. Baumann 1936; Hofmann 1966: 176ff.). Für moderatere Linke stellt er bis heute die Möglichkeit dar, radikale Kapitalismuskritik mit einer sozialreformerischen Perspektive zu versöhnen und stellt deshalb einen positiven Bezugspunkt dar.
Vor dem Hintergrund der dargestellten Entkernung der keynesschen Konzeption liegt ein „Zurück zu Keynes!“ durchaus nahe. Diese Strategie wurde in den unterschiedlichsten Schattierungen auch seit den ersten Keynes-Interpretationen verfolgt (vgl. Herr 2001; Priewe 2002). Dieser Option sind jedoch Grenzen gesetzt – nicht zuletzt durch Keynes selbst. Zum einen hat er keine Theorie aus einem Guss hinterlassen. [3] Es lässt sich somit – wie bei Marx – nicht einfach ein authentischer Keynes freilegen oder rekonstruieren. [4] Keynes-Lektüre ist immer eine Keynes-Interpretation, die eine konsistente Theorie konstruieren muss. Zum anderen liegt die Grenze in Keynes beschränkter Radikalität. Das ist zunächst nicht politisch, sondern theoretisch gemeint. Keynes dringt nicht zu den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen des Gegenstands der politischen Ökonomie vor. Ihn trifft damit die diesbezügliche Kritik, die Marx bereits für die klassische politische Ökonomie formuliert hat.
Kritik an Keynes’ politischer Ökonomie
Die Kategorien, die den Gegenstand der politischen Ökonomie konstituieren, greift Keynes nur äußerlich, als scheinbar überhistorische und natürliche Gegebenheiten auf, statt diese aus spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu begründen. Denn obwohl Keynes (1936: 179) mit der Klassik (er bezeichnet sie als Vorklassik) zumindest darin übereinstimmt, dass der „Grund“ des Werts die Arbeit ist (und sich damit von der Neoklassik abgrenzt), stellt er – wie Marx es im Kapital formuliert (MEW 23: 94f.) – nicht die Frage, warum sich die warenproduzierende Arbeit in den Formen Geld und Kapital ausdrücken muss. Eine Frage, die Marx’ Forschungsprogramm und Perspektive radikal von der Klassik unterscheidet (Heinrich 1999: 196ff.). Eine Frage, die es Marx auch im Gegensatz zu Keynes möglich macht, die konstitutive Relevanz des Geldes für den Kapitalismus nicht nur zu behaupten, sondern zu begründen.
Marx geht es nicht allein um die Darstellung des Arbeits- und Produktionsprozesses als Ausbeutungsprozess. Ihm geht es um die Darstellung der gesellschaftlichen Formen, in denen dieser Prozess stattfindet (vgl. MEW 32: 552f.). Marx unterscheidet die konkret-stoffliche Dimension des gesellschaftlichen Stoffwechsels von der historischen Formbestimmtheit. [5] Deshalb kann er auch zeigen, dass mit der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise das Geld die notwendige Vergesellschaftungsinstanz der privat verausgabten Arbeit wird. Erst durch das Geld werden Privatarbeiten Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit – diesen Status hatte das Geld nicht in jeder Gesellschaft. Die Dechiffrierung der fetischisierten und verkehrten Ausdrücke des gesellschaftlichen Stoffwechsels stellt die eigentliche Radikalität der marxschen Theorie dar.
Für Keynes hätte Marx wahrscheinlich einiges Lob übrig gehabt. Aber: Gerade diejenigen, die Marx mit Lob adelte, kritisierte er scharf und ernsthaft. Für weniger intelligente Köpfe – er nannte sie Vulgärökonomen [6] – hatte er meist nur Spott und kaum ernsthafte Kritik übrig. Und dennoch: Eine umfassende und fundamentale marxsche Kritik an Keynes steht bisher noch aus und kann auch hier nur kursorisch bleiben. [7]
Marx monetäre Theorie kritisierte die Trennung von Warenproduktion und monetären Phänomenen (Geld) (u.a. MEGA² II.2: 156; MEGA² II.3.3: 816; MEGA² II.5: 43; MEW 13: 31, 36; MEW 23: 107). Eine Kritik, die Keynes zwar auch formuliert, die aber dort ihre Grenzen findet, wo Keynes begründen müsste, warum dem so ist. Wie die Klassik dringt auch Keynes nicht zu einer Unterscheidung durch, die für Marx den „Springpunkt“ (MEW 23: 56) seiner Kritik darstellt, die Formbestimmung der warenproduzierenden Arbeit als abstrakter Arbeit im Unterschied zur konkret-nützlichen, die Unterscheidung von gesellschaftlicher Formbestimmung und stofflicher Gestalt, die sich in Marx’ Konzeption durch alle drei Bände des Kapitals zieht. Keynes (1936: 33ff., 179) streift die Frage nach der Möglichkeit der Homogenität von Arbeit und ihrem Maß, kann aber das Problem – wie die Klassik – nicht lösen. Der vollzogene Bruch mit der Klassik bleibt damit zumindest ambivalent.
Dieser Mangel in der Theorie zieht sich durch Keynes’ gesamtes Werk. So kann Keynes nicht erklären, warum die Akteure im Kapitalismus mit Unsicherheit geplagt sein müssen (Baumann 1936: 398; Heinrich 2001). Dies vor allem deshalb, weil ihm verborgen bleibt, dass die kapitalistische Produktionsweise vor dem Hintergrund des Zwangs zu ständigen Produktivkraftsteigerungen nicht nur die Arbeits- und Produktionsverhältnisse, sondern auch die Wertverhältnisse ständig revolutioniert (u.a. MEW 25: 257ff.). Die Vorstellung eines Gleichgewichts ist mit Marx schwer denkbar (Heinrich 1999: 311ff.). Die Unsicherheit bei Investitionsentscheidungen und Verkauf von Waren (inkl. der Arbeitskraft) ist also kein natürlicher Umstand, mit dem man sich eben arrangieren muss – deshalb auch die „scharfsinnige Einrichtung“ (Keynes 1936: 248) Geld -, sie ist vielmehr in den spezifisch kapitalistischen Verhältnissen begründet. Keynes Begriff der Liquiditätsprämie, mit dem er den geldvermittelten Umgang mit dieser Unsicherheit begreifen und theoretisch operationalisierbar machen will, bleibt infolgedessen mangelhaft begründet. [8]
Ähnliches gilt für den Zins. Keynes kann nicht erklären wie es überhaupt möglich ist, dass einer bestimmten Summe Geld die Eigenschaft zukommt, einen Zins abzuwerfen. Eine Aufgabe, die sich Marx im dritten Band des „Kapitals“ stellt (MEW 25: 350ff.). Damit reproduziert Keynes in seinen theoretischen Ausführungen das, was Marx als Naturalisierung sozialer Verhältnisse kritisiert. Da Keynes ohne Selbstverständigung über die Voraussetzungen mit dem Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion beginnt, da wo Marx eigentlich aufhört, an der „Oberfläche der Gesellschaft“ (MEW 25: 33), bleibt dies nicht ohne Auswirkungen auf die theoretische Erfassung des Zusammenhangs der Kategorien.
Aufgrund der Zentralität des Geldvorschusses sieht Keynes im Kreditverhältnis das dominierende ökonomische Verhältnis. Die Produktion beginnt mit einem Geldvorschuss, einem aufgenommenen Kredit zu einem bestimmten Zinssatz. Dieser zwingt die Kapitalisten zu einer bestimmten Mindestverwertung ihres Vorschusses. So weit so gut. [9] Unklar bleibt aber, warum ein Kapitalist überhaupt einen Kredit aufnimmt. Erst der Zweck der Produktion, der Profit und der gesellschaftliche Zwang zur Verwertung des Werts bringen die Kapitalisten dazu, einen Kredit aufzunehmen. Zum einen, um in der Konkurrenz überhaupt bestehen zu können; zum anderen, dem günstigen Fall, um gute Profitmöglichkeiten möglichst effektiv ausnutzen zu können. Deshalb kann Marx davon sprechen, dass der Kredit immer auch der mächtigste Hebel zur Überproduktion sei.
Die hier skizzierte Kritik zeigt, dass Keynes in dem verhaftet bleibt, was Marx als Fetisch und Verkehrung bezeichnet – nicht ohne Folgen. Das lässt sich anhand von drei Beispielen zeigen.
Fortschrittsglaube und Technizismus: In seinem Vortrag „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder“ malt Keynes ein Zukunftsbild, das gerne von links aufgegriffen wird (vgl. Zinn 2009). Das „Ziel der wirtschaftlichen Seeligkeit“, so argumentiert Keynes (1930: 126), werde vor allem durch eines ermöglicht: Steigerung der Arbeitsproduktivität. Keynes verliert jedoch keinen Gedanken daran, warum ausgerechnet dieser Prozess zu diesem Zeitpunkt begonnen hat. Dass die enormen Innovationen erst durch die kapitalistische Produktionsweise freigesetzt, ja erzwungen wurden, der Markt von einer Option zu einem Imperativ wurde, wie es Ellen Meiksins Wood (1999) treffend bezeichnet, bleibt unerwähnt. Die Bedingungen der ständigen Innovation nimmt Keynes gar nicht ins Blickfeld. Zum einen die Trennung der ProduzentInnen von den Produktionsmitteln und die damit verbundene „Änderung der Aneignungsweise der Produktionsmittel“ (Nuss 2006: 166), nämlich den Zweck der Produktion, den Profit. Zum anderen der damit freigesetzte Zwang zur Entwicklung der Produktivkräfte, um den Profit zu steigern. [10] Die von ihm durchaus konstatierte Arbeitslosigkeit aufgrund der Produktivkraftsteigerung spielt er als „Phase mangelhafter Anpassung“ (Keynes 1930: 120) herunter, statt diese als notwendiges Resultat von Innovation mit kapitalistischem Vorzeichen zu thematisieren (vgl. MEW 23: 640ff.; MEW 25: 251ff.).
Die Notwendigkeit von Konkurrenz und Ungleichheit. Eine zentrale Säule bürgerlicher Ökonomietheorie ist das Dogma, dass Privateigentum geschützt werden muss, um den Akteuren einen Anreiz zu Arbeit und Innovation zu geben. Nur die Existenz von Privateigentum könne wirtschaftliche Entwicklung garantieren, denn nur wer sicher ist, dass er/sie die Früchte der eigenen Arbeit auch einstecken kann, hätte überhaupt eine Motivation zu arbeiten (kritisch hierzu Nuss 2009: 326ff.). Eine Prämisse, die auch Keynes teilt, obwohl deutlich sein müsste, dass diese Logik nicht in der Natur des Menschen liegt, „sondern weil ihnen die gesellschaftliche Handlungsstruktur, in der sie agieren, keine andere Wahl lässt.“ (Nuss 2009: 331f.)
Ganz in diesem Sinne hält Keynes angesichts seiner Hoffnung in die Entwicklung der Produktivität fest: „Geiz, Wucher und Vorsicht müssen für eine kleine Weile noch unsere Götter bleiben. Denn nur sie können uns aus dem Tunnel der wirtschaftlichen Notwendigkeit ans Tageslicht führen.“ (Keynes 1930: 136). Zwar hofft er diese menschlichen Triebe eines Tages unter Kontrolle zu bekommen und zu verändern, aber er ist nicht in der Lage, sie als Ausdruck spezifischer Verhältnisse zu dechiffrieren. Keynes hat nicht die Abschaffung des Manchester-Kapitalismus zum Ziel, sondern die Realisierung der Bedingungen für das „freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ (Keynes 1936: 320). [11]
Wissenschaftsgläubigkeit. Bei Keynes erscheint nicht nur Wissenschaft als neutrales Terrain, sondern auch der Staat, der den wissenschaftlichen Einsichten Geltung verschaffen soll. [12] Im Namen einer gesamtwirtschaftlichen Vernunft und der Wissenschaft verschwinden Interessensunterschiede in einer durch Klassen, Konkurrenz und Zwänge strukturierte Gesellschaft (so auch in Keynes 1925). Bei den Bedingungen für das „Ziel der wirtschaftlichen Seeligkeit“ bagatellisiert er die Herausforderungen, die die kapitalistische Ökonomie stellt und bittet darum, diese nicht überzubewerten sondern denen zu überlassen, die sich damit auskennen: „Sie sollte eine Sache für Spezialisten werden, wie Zahnheilkunde. Wenn Ökonomen es fertigbringen würden, dass man sie für bescheidene, sachkundige Leute, Zahnärzten vergleichbar, halten würde, das wäre großartig!“ (Keynes 1930: 126f.) [13] Würde es nach Keynes gehen, wären Ökonomieärzte für die Wirtschaft verantwortlich. Ihre Tätigkeit würde dann wohl darin bestehen, Verständnis für schmerzhafte und beängstigende Eingriffe herzustellen. Gramsci hätte an dieser Umschreibung hegemonialer Praxis von Intellektuellen seine Freude gehabt.
Kritik des Keynesianismus
So weit die Theorie. Das, was als keynesianistische Phase in die Geschichtsbücher eingegangen ist, hat er nicht erlebt. Keynes ist gegenwärtig jedoch nicht deshalb in der Diskussion, weil er einiges zum Verständnis des Kapitalismus beiträgt, sondern weil er für viele eine politische Perspektive mit mehr „sozialer Gerechtigkeit“ verspricht. Eine Perspektive, die als keynesianistischer Wohlfahrtsstaat diskutiert wird und die für viele vor allem deshalb eine Zukunft besitzt, weil sie bereits eine vermeintlich erfolgreiche Vergangenheit hatte.
Der keynesianistische Wohlfahrtsstaat konnte sich in einigen Staaten vor dem Hintergrund des sog. Fordismus durchsetzen. Über ersten kann nicht ohne letzteren gesprochen werden. Beide hingen nicht nur von spezifischen gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen ab; beide wurden auch als Entwicklungsmodell von links aus unterschiedlichen Perspektiven kritisiert. Die herrschaftskritische Perspektive stellte vor allem die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Effekte heraus. Diese umfasste nicht nur die Kritik der Durchsetzung spezifischer Lebensweisen und Konsummuster, sondern auch die Lohnarbeitszentriertheit und das damit verbundene Familienmodell – inklusive asymmetrischer Geschlechterverhältnisse. Da der Keynesianismus auf einen ‚starken‘ Staat angewiesen ist, sind ihm eine vertiefte Bürokratisierung und eine technokratische Politikweise eingeschrieben, die aus staats- und herrschaftstheoretischer Sicht kritisiert wurde. Aus internationalistischer und ökologischer Perspektive wurden einerseits die globalen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse kritisiert, andererseits der vor allem auf fossilen Energieträgern und auf Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhende Wachstumspfad. Letzterer ermöglichte in der Vergangenheit einmalige Wachstumsraten und ist mitverantwortlich für die gegenwärtig verstärkt wahrgenommene ökologische Krise. [14]
Diese Momente zeigen, dass der Fordismus alles andere als ein ‚goldenes Zeitalter‘ war – ein Begriff der immer schon ironisch verwendet wurde. [15] Die kritisierten gesellschaftlichen Verhältnisse waren immer auch Voraussetzungen, die den keynesianistischen Wohlfahrtstaat überhaupt in seiner historischen Form ermöglichten. Damit sind aber noch lange nicht alle Voraussetzungen benannt. Weitere Bedingungen waren nicht nur das stabile Weltgeld (der im Bretton Woods System an das Gold gekoppelte US-Dollar) und relativ abgeschottete Binnenmärkte mit kaum nennenswerten Kapitalströmen, sondern auch die Hegemonie der USA und die alle politischen Verhältnisse überdeterminierende Blockkonfrontation.
Warum der Fordismus in die Krise geriet, kann hier nicht diskutiert werden. Sicher ist jedoch, dass die genannten Voraussetzungen entweder weggebrochen sind oder sich grundlegend verändert haben. Mit weitreichenden Folgen für die Entwicklung des Kapitalismus und für die ökonomische Theorie. Bereits Anfang der 1970er konstatiert Joan Robinson (1972) eine zweite Krise der ökonomischen Theorie. Und der französische Versuch eines „Keynesianismus in einem Land“ unter Mitterand scheiterte Anfang der 1980er Jahre. Nach dem Ende des Systems der festen Wechselkurse, anschwellenden Kapitalströmen und der Einbindung in die europäische Integration war es Frankreich nicht möglich, als relativ kleines Land ein neokeynesianistisches Programm gegen den Sachzwang Weltmarkt durchzusetzen (Hall 1986: 192-226; Herr/Spahn 1989; Petit 1989: 231-263). [16]
Vor allem die Herstellung fester Wechselkurse und rigide Kapitalverkehrskontrollen – beides Voraussetzungen einer keynesianistischen Politik – sind derzeit derart fernliegend, dass sich die Frage aufdrängt, was momentan utopischer ist, eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse oder die Bedingungen für ein keynesianistisches Projekt?
Marxistische Synthese
Neben denjenigen, die Keynes als ‚vollwertige‘ Alternative ins Spiel bringen, gibt es noch die, die zwar mit Keynes denken, aber Marx nach wie vor im Herzen tragen (vgl. z.B. Hickel 2003: 64). Karl Betz (1988) versteht Keynes gar als Abschluss des marxschen Projekts. Andere versuchen Keynes dort frucht bar zu machen, wo Marx nichts Brauchbares für eine alternative Wirtschaftspolitik liefere. Keynes könne Pate für ein konkretes reformerisches Projekt stehen, das realistische und breiten Bevölkerungsschichten zugängliche Alternativen biete. Marx ist in einer solchen Perspektive der Garant für radikale Kapitalismuskritik. Im Anschluss an die neoklassische Vereinnahmung von Keynes könnte man hier – ironisch gewendet – von einer „marxistischen Synthese“ sprechen. Eine Synthese, die aufgrund ihres politischen Anspruchs nicht allein an ihrem Umgang mit der bereits angeführten Kritik an Keynes und dem Keynesianismus zu messen ist, sondern an weitaus mehr.
Keynes‘ Theorie ist schon länger zur Software der (linken) Sozialdemokratie geworden. Kein Wunder: Keynes bot einen Weg, der vielen gefallen musste. Die Löhne aber auch die Staatsausgaben stellen in Keynes‘ Perspektive nicht allein Kostenfaktoren dar, sondern eben auch einen Teil der gesellschaftlichen Nachfrage, die das Produktionsvolumen und damit auch den Beschäftigungsstand tangiert. Vor diesem Hintergrund können Lohnabhängige die Verbesserung ihrer Lebensqualität einfordern, ohne dass ihre Interessen an höheren Löhnen oder dem Ausbau öffentlicher Dienstleitungen sofort in einen Widerspruch zum Profitstreben des Kapitals geraten. Eine derart „linke“ Wirtschaftspolitik kann für sich in Anspruch nehmen, nicht nur die Interessen einer Klasse, sondern das Allgemeinwohl zu verfolgen. Allerdings findet sie ihre Grenze dort, wo etwa die Lohnsteigerungen zu inflationären Entwicklungen führen. Werden die Interessen der Lohnabhängigen vor allem als Teil der fürs Kapital wichtigen gesellschaftlichen Nachfrage behandelt, dann findet die Durchsetzung dieser Interessen genau dort ihre Grenze, wo diese für das Kapital positive Rolle nicht mehr gegeben ist. Mit Keynes kann man in politischen Auseinandersetzungen gerade so lange etwas bewegen, wie es nicht um die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse geht.
Reform oder Transformation der Verhältnisse?
Keynes war politisch nicht radikaler als seine Theorie. Er bleibt theoretisch und politisch dort stehen, wo er die fetischisierten Formen der kapitalistischen Warenproduktion selbst hätte zum Gegenstand der Kritik machen müssen. [17] Allerdings wollte er den Kapitalismus auch nicht überwinden. Keynes (1936: 317, 319) Perspektive ist ein „sanfter Tod des Rentners“, d.h. das Ende der Möglichkeit hoher Zinseinkommen bei gleichzeitig „umfassender Verstaatlichung der Investitionen“ und – wenn man das so sagen kann – einem Mehrwert der gegen Null geht. [18] Allerdings bei gleichzeitiger Beibehaltung von Privateigentum, Märkten, Anreizstrukturen (durch Konkurrenz und Ungleichheit), Unternehmertum und des Zwangs, die Arbeitskraft als Ware zu verkaufen – wenn auch unter verbesserten Bedingungen (u.a. einer radikalen Arbeitszeitverkürzung). [19] Eine radikale, an Marx orientierte Kapitalismuskritik, die zugleich eine keynesianistische Perspektive formulieren will, muss hier schon größere Widersprüche lösen.
Eine reformerische Perspektive ist genötigt, herrschende Diskurse, herrschende institutionelle Formen und politische und ökonomische Verfahrensweisen grundsätzlich anzuerkennen, um politische Vorhaben möglichst umfassend realisieren zu können. Sie muss im Namen des Allgemeinwohls sprechen, das die Widersprüche der Klassengesellschaft gerade entnennt und die vorhandenen politischen Formen der Konfliktaustragung und die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse anerkennen. Das bedeutet zugleich, die institutionellen Arrangements, politischen Strukturen und ökonomischen Formen, die den gesellschaftlichen Widersprüchen eine Bewegungsform geben, zu reproduzieren. Während einer radikalen Kapitalismuskritik vorgehalten wird, keine positive, realitätstaugliche Perspektive zu formulieren, ließe sich gegenüber denjenigen, die mit Marx im Herzen keynesianistische Reformpolitik betreiben wollen, die Frage stellen, wie ein Ausweg bei gleichzeitiger Anerkennung des gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmens überhaupt formuliert werden kann? Wie soll der Kapitalismus krisenfreier, erträglicher, gerechter und gleichzeitig überwunden werden?
Mit dem marxschen Formbegriff kann im Anschluss an Nicos Poulantzas eine analytische Unterscheidung nutzbar gemacht werden, die den Widerspruch zumindest theoretisch verhandelbar macht. Eine Voraussetzung, um in der politischen Praxis mit den vielen Schwierigkeiten, Widersprüchen und Fallstricken überhaupt umgehen zu können. Poulantzas unterscheidet drei Formen von Kämpfen, die er zwar auf den Staat bezieht, die aber zugleich umfassender, d.h. in Bezug auf die Formen des Kapitalverhältnisses diskutiert werden können (Gallas 2006). Erstens Kämpfe innerhalb des Staats (Poulantzas 1977: 215). Darunter fallen bspw. gesetzliche Regelungen der Arbeitszeit und sozialstaatlicher Transferleistungen. Auf dem Terrain des Staates findet in den unterschiedlichsten Gremien (Parlament, Ausschüsse etc.) ein Gerangel zwischen sogenannten Experten, Lobbygruppen, Interessenverbänden und politischen (Partei)Projekten statt. Beschlossene und durchzusetzende Regulierungen sind jedoch nicht Resultat vernünftiger parlamentarischer Politik oder kluger Kompromisse. Vielmehr verweisen sie auf eine zweite Form von Kämpfen: Die Kämpfe auf Distanz zum Staat (Poulantzas 1977: 227). Diese setzen den Staat voraus, sind also durch ihn als Herrschaftsapparat und seine Machteffekte selbst bedingt, wirken aber zugleich auf ihn ein. Hierzu können betriebliche Kämpfe ebenso zählen wie außerparlamentarische Kämpfe gegen sozialpolitische Zumutungen. Aber auch Kämpfe, die überhaupt bestimmte Bereiche zum Politikum machen, d.h. der privaten Sphäre entreißen (Frauenbewegung). Drittens gibt es aber auch Kämpfe um die Staatsform selbst (Poulantzas 1977: 287) wie im Falle der Revolten in Frankreich 1968 oder der Nelkenrevolution in Portugal. Will man an einer grundlegenden Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse festhalten, müssen sich die Kämpfe vor allem an diesem Ziel orientieren, d.h. an den Formen Staat und Kapital. [20]
In der politischen Praxis ist alles viel verwickelter und eine analytische Unterscheidung kaum möglich. Zumal der Ausgang sozialer Kämpfe immer ungewiss ist. Auf eine radikale Veränderung angelegte Kämpfe und Bewegungen können eine Modernisierung des Kapitalismus zur Folge haben; reformistische Anliegen und Vorhaben können hingegen unerwartet breite Massen radikalisieren und in Bewegung setzen. Aber gerade deshalb sind theoretische und analytische Anstrengungen von Nöten.
Eine radikale Kapitalismuskritik bedeutet nicht, reformerische Möglichkeiten innerhalb des Kapitalismus zu verleugnen. Auch Marx war kein Gegner von Reformen oder Verbesserungen proletarischer Lebensbedingungen. Mehr noch: Mit der marxschen Theorie kann man zeigen, wie und wo der Kapitalismus Spielräume aufweist, ohne als Kapitalismus aufzuhören. Marx führt diese Perspektive bspw. beim Kampf um den Normalarbeitstag aus (MEW 23: 294ff., vgl. Gallas 2006: 111ff.). [21] Was als ‚normaler‘ Arbeitstag in einer Gesellschaft gilt, ist ein Resultat von Kämpfen. Marx zeigt aber auch, dass steigende Löhne mit steigender Ausbeutung zusammen fallen können. Ein Kampf um kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne mögen also noch so politisch richtig und wünschenswert sein: den Kapitalismus heben sie nicht aus den Angeln. Bei allen Spielräumen geht es immer auch darum, die Grenzen benennen zu können und sich ihnen in politischen Auseinandersetzungen bewusst zu sein.
Das klingt etwas schematisch. Das Grundproblem der gegenwärtigen Debatte über Keynesianismus und Antikapitalismus ist jedoch, dass viele, die Hoffnungen auf einen neuen Keynesianismus hegen, die Formen miteinander versöhnen wollen und nicht einmal bereit sind, sie zumindest analytisch zu trennen sowie die Voraussetzungen und Grenzen eines radikalen Reformprojekts zu benennen. Es ist etwas anderes, höhere Löhne zu fordern, als das Ende einer Gesellschaft, die auf Lohnarbeit und Kapitalverwertung basiert (vgl. MEW 16: 152, auch Luxemburg 1899: 428).
Auch ein gern angeführtes Argument hilft nicht weiter: Es sei zynisch, so bspw. Elmar Altvater, sich drängenden reformerischen Perspektiven zu verweigern. Gleichzeitig müsse man an einer den Kapitalismus überwindenden Perspektive festhalten (Zelik/Altvater 2009: 65). Hier stellt sich aber die Frage, wie dieses „Festhalten“ aussehen könnte. Nicht allein die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass dies alles andere als ein selbstverständliches Unterfangen ist, vor allem dann nicht, wenn man sich in die Institutionen begibt und mit reformerischen Projekten darin umkommt. Als gesellschaftliche Option bleibt das Ziel nur dann erhalten, wenn es weiterhin radikale soziale Bewegungen und gesellschaftliche Kämpfe gibt sowie organisierte Formen theoretischer und politischer Reflexion – zwei starke Voraussetzungen, die nicht einfach vom Himmel fallen, sondern organisiert werden müssen. Organisiert werden müssen aber auch die konkreten Reformprojekte selbst, die, obwohl im Namen des Allgemeinwohls angestoßen, immer in Klassenauseinandersetzungen und gegen existierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse realisiert werden müssen.
LinkskeynesianerInnen sind jedoch bereits bei Lohnkämpfen einem Dilemma ausgesetzt. Lohnerhöhungen sind nämlich aus deren Sicht aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive nur dann zu verantworten, wenn sie sich am Produktivitätsfortschritt orientieren – alles andere wirkt inflationär (Flassbeck/Spiecker 2007; Heine/Herr 2000: 503ff.; Herr 2002: 533f.). Lohnsteigerungen könnten an der Verteilung zwischen Kapital und Arbeit nichts ändern. Umgekehrt können zu hohe Löhne dazu führen, dass die Investitionsdynamik und damit die wirtschaftliche Entwicklung nachlässt. Deshalb wird von dieser Seite schon bald im Namen einer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung zu Lohnzurückhaltung angehalten werden (Vobruba 1983: 139ff.). [22] Auch deshalb konnte Christoph Deutschmann (1973: 136) bereits vor Jahrzehnten formulieren: „Gerade der scheinbare Radikalismus der kritischen Richtung des linken Keynesianismus hat den ‚linken‘ Tendenzen in der Sozialdemokratie häufig als Alibi vor einer klaren Entscheidung für eine Politik konsequenter gewerkschaftlicher Interessensvertretung gedient.“
Aber neben dieser theoretischen Frage, stellt sich, wie bereits angedeutet, die Frage der realen Durchsetzung von Reformprojekten. Stellen wir uns ein solches – im besten Sinne! – radikalreformistisches Projekt vor, um diese Frage zumindest kursorisch diskutieren zu können. Zum einen müsste es eine Ausweitung der öffentlichen Güter geben. Im keynesianischen Wohlfahrtsstaat war die Energieversorgung, Telekommunikation, Wasser und Nah- und Fernverkehr nicht gratis, jedoch unter staatlicher Kontrolle. Ein radikales Reformprojekt müsste darüber hinausgehen. Nicht nur was die Form der Organisierung betrifft (nicht-staatlich), sondern Gesundheit, Wohnen, Pflege und mehr müsste ebenso als öffentliches Gut garantiert werden. Nur so besteht überhaupt die Möglichkeit, dass gesamtgesellschaftlich eine andere ökonomische Logik etabliert wird – das, was ja das Ziel sein sollte. Eine Logik, die sich nicht am Profit, sondern an den Bedürfnissen orientiert. [23] Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie in Felder interveniert werden kann, auf denen die KonsumentInnen recht schwach sind. So zum Beispiel bei Gesundheit und Wohnen. Hier wäre es möglich durch Preisobergrenzen und Positivliste im Pharmabereich, Preiskon trollen in der Energiewirtschaft sowie bei den Mieten staatlich einzugreifen. [24]
Wird aber in den angesprochenen Bereichen die Befriedigung von Bedürfnissen als politisches Ziel markiert, so stellt sich unmittelbar die Frage nach der Finanzierung. [25] Wer soll das wie bezahlen? Hier soll nicht die übliche neoliberal-konservative Kritik reproduziert werden, dass das alles nicht finanzierbar ist. Das ist nicht der springende Punkt. Vielmehr geht es darum, dass ein radikal-reformistisches Projekt nicht nur theoretisch plausibel und politisch attraktiv sein muss, sondern es muss auch gesellschaftlich durchgesetzt werden. Dies bedeutet u.a. einen Eingriff in die Eigentumsordnung (nicht nur in Form von Steuern), soziale Konflikte mit Kapitalfraktionen, den besitzenden Klassen und Interessensverbänden. [26] Konflikte, die nicht einfach durch bessere Argumente gelöst werden können. Es sind Interessenkonflikte, die zu einer Hegemonie krise und schließlich zu einer politischen und sogar Staatskrise führen können, ja müssen, da ein „bestehender Modus der politischen Herrschaft“ (Sablowski 2006: 260) in Frage gestellt wird (vgl. Agnoli 1984). Und das könnte ungemütlich werden. Dieser Punkt ist keine Marginalie und sollte auch nicht leichtfertig verhandelt werden. Schließlich besteht die Herausforderung darin, einen emanzipatorischen Prozess in Gang zu setzen, der nicht in einer Barbarisierung oder neuen Formen von Herrschaft münden darf. Gleichzeitig gilt jedoch, dass diese Herausforderung weder theoretisch noch politisch zu den Akten gelegt werden kann, nur weil sich der Kapitalismus als eine harte Nuss erwiesen hat.
Literatur
– Agnoli, Johannes (1984): Die Logik des Staates und das Recht auf Rebellion, Gesammelte Schriften, Bd.2, Freiburg 1995, 205-218.
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Anmerkungen
[1] Eine Idee, die bereits bei Marx zu finden ist (vgl. MEW 25: 620, 451; MEW 42: 201).
[2] Siehe zur Frage, warum sich der Keynesianismus durchsetzen konnte und schließlich wieder in eine Krise geraten ist u.a. Bleaney (1985), Clarke (1988) und Rothschild (1986).
[3] Gerne wird Keynes’ überlieferte Antwort angeführt, in welcher er wohl auf Paul Samuelsons Frage, warum er so oft seine Meinung ändere entgegnet: „Wenn meine Informationen sich ändern, ändere ich meine Meinung. Was tun Sie, Sir?“
[4] So bringt bspw. Herbert Schui (2009) einen scheinbar „originären Linkskeynesianismus“ gegen den Standardkeynesianismus in Stellung, der sich einem dann offenbare, wenn man Keynes „richtig verstanden“ habe.
[5] Das hält er bereits in den Grundrissen (MEGA² II.1.1: 179f.) fest. Vgl. auch MEGA² II.4.1: 227; MEGA² II.3.3: 862.
[6] Zur Problematisierung des Begriff siehe Heinrich (1999: 78ff.).
[7] Eine – teilweise problematische – Ausnahme bilden Krüger et al. (1984).
[8] So manche marxistische Kritik geht in ihrer Fixierung auf die Produktion deshalb oft ins Leere, wie z.B. Saad-Filhos (2007: 341f.).
[9] Auch Marx konstatierte diesen Gegensatz zwischen zinstragendem Kapital und fungierendem Kapitalisten (MEW 25: 392f.). Ebenso deutet er an, dass Kredit, aber auch Formen des fiktiven Kapitals (Aktien) als Ansprüche auf zukünftige Arbeit und Anteile an der Verwertung den realen Verwertungsprozess unter Druck setzen können (vgl. MEGA² II.4.1: 288). In den Theorien über den Mehrwert macht Marx deutlich, dass dem Zinsfuß des Kreditsystems eine besondere Rolle zukommt, da er dem Einzelkapital als „Fixes, Gegebenes“ gegenübertritt (MEW 26.3: 457).
[10] Auch hier hätte Keynes bei Marx einiges lernen können, der gegenüber John Stuart Mill deutlich macht, dass „der Zweck der kapitalistisch verwandten Maschinerie“ keineswegs sei, die „Tagesmühe irgendeines menschlichen Wesens“ (Mill) zu erleichtern, sondern „Mittel zur Produktion von Mehrwert“ sei (MEW 23: 391). Im Gegensatz zu Keynes kennt Marx auch die historischen Voraussetzungen dieser Entwicklung – bspw. die Zerstörung der Gilden und Zünfte (u.a. ebd: 778; MEW 42: 405ff.). Marx berichtet auch von Verboten oder noch drastischeren Methoden zur Verhinderung der Steigerung von Arbeitsproduktivität (MEW 23: 451 Fn. 194).
[11] Alvin H. Hansen (1947: 204) macht eine Aufstellung der Passagen, in denen Keynes seinen Glauben in die Kräfte des Marktes, individueller Initiative und Verantwortlichkeit zum Ausdruck bringt. Auch dies unterstreicht die Ambivalenz des keynesschen Werks.
[12] Keynes Haltung zum Staat ist ambivalent. Auf der einen Seite schreibt er ihm sehr viele Aufgaben zu, spricht von einem „idealen Staat“ und sieht in dessen Politik den gemeinsamen Willen verkörpert (1936: 318, 318). Seine Hoffnung ist ein „klug geleiteter Kapitalismus“ (1926: 116). Gleichzeitig sieht sich Keynes als Liberaler in Zeiten von Faschismus und Stalinismus dazu genötigt, vor der Gefahr eines „totalen Staates“ (1936: 321) zu warnen.
[13] Deshalb ist Vobruba (1979: 497) nur zuzustimmen, wenn betont, dass der Keynesianismus Wirtschaftspolitik auf ein „technisches Problem“ reduziert. Dies sei Folge eines technokratischen und instrumentellen Gesellschaftsbildes (Vobruba 1983: 129ff.).
[14] Dies wohl auch deshalb, weil sich im Rahmen eines sog. grünen Kapitalismus neue und profitable Anlagesphären für das Kapital zu eröffnen scheinen.
[15] Mit einem Augenzwinkern wurde auf das „chrýseon génos“ verwiesen, das goldene Zeitalter in der griechischen Mythologie, das einen ‚Idealzustand‘ in der Urphase der Menschheit bezeichnet.
[16] Die gegenwärtigen Voraussetzungen für eine keynesianisches Projekt können hier nicht diskutiert werden. Für bestimmte Länder bestehen durchaus (minimale) Spielräume. Etwa in den USA aufgrund der besonderen Stellung des US-Dollars oder in China u.a. dank des rigiden Wechselkurssystems sowie der Rolle in der Weltwirtschaft.
[17] Frieder O. Wolf (2007: 163) hält zurecht fest, dass die Festlegung von Grenzen der keynesschen Theorie nicht notwendigerweise eine Kritik impliziere.
[18] An einer Stelle spricht Keynes (1936: 185) von einem „quasi-statischen Gemeinwesen“.
[19] Man könnte hier Marx’ Proudhon-Kritik paraphrasieren: Keynes will die kapitalistische Produktionsweise beibehalten, jedoch ohne die ärgerlichen Beilagen und den Zwang zu Profit. Ganz so, als wolle Keynes einen Katholizismus mit Himmelreich – ohne Beichte, Absolution und Fegefeuer (vgl. MEW 23: 82 Fn. 24, 102 Fn. 40; MEW 13: 66ff.).
[20] Ohne die Unterscheidung von Poulantzas explizit aufzunehmen diskutieren Elmar Altvater und Raul Zelik eine derartige Gemengelage anhand von Beispielen (Zelik/Altvater 2009: 161ff.).
[21] Mit einer staatlichen Sanktionierung verändern sich auch die Bedingungen der gesellschaftlichen Kämpfe. Das zeigte sich bspw. in den USA in Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929. Durch den National Recovery Act von 1933 wurde den ArbeiterInnen formal erlaubt, Kollektivverhandlungen mit dem Kapital zu führen und ermutigte diese, vielen Unternehmen mit einer Welle von Streiks zu überziehen und sich zu organisieren. Erst diese ermöglichten die Durchsetzung des Arbeitsgesetzes von 1934, das Roosevelt zunächst ablehnte (Brecher 1972: 131ff.; Roth 2009: 325f.).
[22] Ähnliches gilt für die Staatsverschuldung, vgl. hierzu Stützle (2008).
[23] Seit einigen Jahren wird ähnliches u.a. auf www.links-netz.de als Sozialpolitik als Infrastruktur diskutiert. Linkskeynesianische Vorschläge sind bisher sehr viel verhaltener und formulieren eher die Vision eines „guten Kapitalismus” und fallen damit teilweise hinter Keynes Radikalität zurück (Burmeister/von Treeck 2009; Dullien/Herr/Kellermann 2009).
[24] Als Vergesellschaftung der Kauf- und Verkaufsakte und des Preisbildungsprozesses diskutiert Elson (1990) eine sozialistische Reformstrategie.
[25] Das gilt unabhängig davon, dass es ohne soziale Kämpfe sowieso unrealistisch ist und eine derartige Perspektive parteipolitisch z.Z. sowieso kaum diskutiert wird.
[26] Deshalb ist Deutschmanns (2003) zentrale Kritik auch, dass Keynes die Widerständigkeit der Geldvermögensbesitzer falsch eingeschätzt habe. Wie schwer durchsetzbar bereits eine bezahlbare Gesundheitsversicherung sein kann, musste in den USA gerade Barack Obama erfahren (Scharenberg 2009). Marx hätte wohl kommentiert: „Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen!“ (MEW 23: 505)
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(erschienen in: Prokla 157/2009)