Helmut Dahmer
Regression einer kritischen Theorie
Schicksale der "Psychoanalytischen Bewegung"
Inwiefern die Freudsche eine "kritische" Theorie ist, ist bald gesagt. Sie nimmt es mit unverständlichen Phänomenen, mit Sphinx-Rätseln wie den Hysterien oder dem Antisemitismus auf, an denen eher "traditionell" strukturierte Theorien scheitern. Um der zwieschlächtigen Natur enigmatischer Phänomene gerecht zu werden, kombiniert sie Erklärungen mit Deutungen (bzw. "allgemeinen Interpretationen"). Ihr Ziel ist es, vermeintliche Natur-Phänomene als soziale zu dechiffrieren und auf diese Weise Individuen instand zu setzen, sich dem Wiederholungszwang zu entwinden, also Verhaltensroutinen zu revidieren. Die Psychoanalyse ist demnach eine eigentümliche, Erklärungen und Deutungen integrierende Wissenschaft, die es den an ihrer Kultur leidenden Menschen leichter macht, sich deren Bann ein Stück weit zu entziehen. Auf den ihnen unerträglichen Antagonismus zwischen Wunsch und Realität reagieren sie mit der Ausbildung eines Abwehrrituals, einer "Privatreligion". Und durch Psychoanalyse können sie aus dieser Sackgasse herausfinden, sich ihre neurotischen "Religionsübungen" ersparen, die Auseinandersetzung mit Wünschen und Realitäten und die Suche nach neuartigen Kompromißlösungen wieder aufnehmen. Am Beispiel der Psychoanalyse können die anderen Sozialwissenschaften, vor allem die Soziologie, ihrer eigenen problematischen Teilhabe an Herrschaftswissen und Emanzipationswissen inne werden.
Kritische Theorien haben, wie Bücher, ihre Schicksale; sie entspringen bestimmten sozialen Kontexten, historischen Situationen, deren spezifische Problematik sie ausformulieren. Stets zeitbedingt, suchen sie ihrer Zeitbedingtheit zu entrinnen, aus ihrer Zeit herauszuspringen, beanspruchen Wahrheit, Geltung auch jenseits der Situation, in der sie entstanden sind, das heißt: für alle Zeit. Doch die Zeit bemächtigt sich ihrer, vernutzt sie, entstellt sie, aktualisiert sie oder geht über sie hinweg. Die sich wandelnden Gesellschaftsverhältnisse, in denen die kritischen Entwürfe - eigentlich: ihre Anhänger, spezielle Interpretationsgemeinschaften - zu überleben suchen, entscheiden über ihr Schicksal. Was an einer Theorie zeitbedingt ist, geht mit ihrer Zeit zugrunde. Was in ihr gegen ihre Zeit ist, aus dieser Zeit hinauswill, kann vielleicht überleben. In jeder neuen Zeit, in die der überlebende Kerngedanke der Theorie eintritt, muß sie von dem sich lösen, was an ihr als antiquiert erscheint. In jeder neuen Zeit stellt sich ein spezifisches, neuartiges Verhältnis zur Überlieferung her. Der Kampf zwischen Obsoleszenz und Aktualität endet nicht, solange die Theorie wirkt, also lebendig ist. Ihre Wirkungsgeschichte ist nichts anderes als die unabschließbare Auseinandersetzung darüber, was an ihr - und für wen - von gestern und was von morgen ist. Hat eine neue Wahrheit einmal in einer Theorie ihren Ausdruck gefunden, so wird sie in jeder Gegenwart wieder verschüttet und muß von neuem ausgegraben werden. Kritische Theorien durchlaufen darum Verfallsgeschichten und Renaissancen.
Die Freudsche kritische Theorie ist in den drei Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg entstanden. In den beiden darauf folgenden Jahrzehnten, also zwischen 1914 und 1934, wurde die Psychoanalyse sich selbst, das heißt: Freud und den Psychoanalytikern, zum Problem. Damals bildeten sich konträre Deutungen des logischen Status’ der Psychoanalyse heraus, über deren Triftigkeit Psychoanalytiker und Nicht-Psychoanalytiker auch hundert Jahre, nachdem die Psychoanalyse in die Welt kam, noch immer streiten.
"Psychoanalytische Bewegung" nannte sich eine der nonkonformistischen Intellektuellen-Gruppierungen, die im frühen zwanzigsten Jahrhundert nach einem Ausweg aus der Pogrome und Kriege erzeugenden Kultur suchten. "Es braucht nicht gesagt zu werden", schrieb Freud - stellvertretend für eine ganze Generation von Gesellschaftskritikern -, "daß eine Kultur, welche [wie die unsere] eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient." [1] Das gemeinsame Ziel der Neuerer und Reformer, Rebellen und Revolutionäre, Sezessionisten, Nörgler und Dissidenten der Vor- und Zwischenkriegszeit war es, die bürgerliche Gesellschaft vor dem Rückfall auf das zu bewahren, wogegen alle Kultur sich richtet: die Barbarei. Die wohl unscheinbarste Formulierung für dies Programm hat wiederum Freud gefunden, als er schrieb, es gehe um die Herbeiführung einer Kultur, die "keinen mehr erdrückt" [2]. Die politisierenden menschewistischen, bolschewistischen und anarchosyndikalistischen Intellektuellen, die um Freud gescharten Therapeuten und Erforscher des Unbewußten, die Maler der "Brücke" oder des "Blauen Reiters", die Lyriker und Internationalisten im Umkreis der Zeitschriften Der Sturm und Die Aktion (Franz Pfemfert), die russischen Futuristen, Akmeisten und "Serapionsbrüder", ihre Pariser Kollegen um André Breton und die Frankfurter Freunde Max Horkheimers, - sie alle hätten sich diese Formel zu eigen machen können.
Das spezifisch Freudsche Projekt einer "Befreiung von unnötigem innerem Zwang" [3] läßt sich im etablierten System der Wissenschaften nicht leicht unterbringen. Er selbst hat es oft fehlgedeutet und maskiert. Die Wissenschaft vom (verdrängt) Unbewußten ist eine zweideutige. Manchen erscheint sie als eine "Naturwissenschaft von der Seele", die einer Humantechnik den Weg bereitet, anderen wieder als eine Hermeneutik sui generis, die auch vor vermeintlich "unsinnigen" Texten, Praktiken und Institutionen nicht kapituliert. [4] Die eigentümliche Verschränkung "naturwissenschaftlicher" und "geisteswissenschaftlicher" Methoden in der Psychoanalyse (also von Erklären und Verstehen) [5] zeigt an, daß ihre "Objekte" - die Institutionen der Kultur und der Seele - selbst ambigue sind. Je nach lebens- und sozialgeschichtlicher Situation erscheinen sie als "Natur", also als etwas Vorfindlich-Unabänderliches, oder imponieren als ein revidierbares Artefakt. Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft besonderer Art. Die Faszination der Psychoanalyse beruht darauf, daß in ihrem Inneren sich eine Kritik verbirgt, die in ihrem Objekt ein Subjekt ausmacht, das sich szientistischer Feststellung entzieht. Die psychoanalytische Kritik tritt inkognito auf, im Panzer einer Science. Warum? Weil sie den pseudonatürlichen Status ihrer "Objekte" (Patienten, Klienten) solange ernstnehmen muß, bis sie imstande sind, sich ihm zu entwinden. [6] In Freuds Schriften koexistieren dementsprechend zwei Terminologien: Seine Begriffe entstammen zum einen der naturwissenschaftlichen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - also den Schriften von Anti-Metaphysikern wie Helmholtz und Mach -, zum anderen der Naturphilosophie Schellings, die Freuds akademische Lehrer verworfen hatten, um an ihre Stelle eine neue, materialistisch-physikalistische Physiologie zu setzen. [7] Freud selbst hat seinen Übergang von der Neurophysiologie zur Psychoanalyse und von der Neurosentherapie zur Explikation der kritischen Theorie der Kultur, die seinem psychoanalytischen Dialogverfahren zugrunde lag, als eine Rückkehr zu den philosophischen Interessen seiner Jugend gedeutet: "Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse [nach 1923] zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten." [8] Gleichwohl hielt er stets daran fest, daß es sich bei der von ihm aus der Neurosentherapie, die er gern eine "Technik" nannte, entwickelten Psychologie des Unbewußten um eine "Naturwissenschaft" handele. Im Anschluß an seine These, es gebe eigentlich nur zwei Wissenschaften, die von der Natur und die von der Seele [9], subsumierte er die Seelenwissenschaft derjenigen von der Natur: "Die Psychoanalyse ist auch eine Naturwissenschaft." [10] Ganz war er mit dieser Einordnung freilich nicht zufrieden. Darum fügte er ratlos die Frage an: "Was sollte sie denn sonst sein?" [11]. Auf diese Frage hat er andernorts in seinen Schriften implizit Antwort gegeben. Doch zögerte er, seiner neuen Psychologie des Unbewußten - die mit der "natürlichen" Einstellung (und dem überlieferten "Menschenbild") brach - auch explizit die Sonderstellung einer Nicht-Naturwissenschaft zuzuerkennen, sich also Nietzsche anzuschließen. Dieser hatte 1886 - in dem der Genealogie des Begriffs "Erkenntniss" gewidmeten Aphorismus 355 der erweiterten Auflage von Die fröhliche Wissenschaft - das "kritische" oder "unnatürliche" Denken, das das Nicht-Fremde zum Objekt nimmt, vom "traditionellen" folgendermaßen abgesetzt:
"Sollte es nicht der Instinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein? [...] Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an! [...] Auch die vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der ’inneren Welt’, von den ’Thatsachen des Bewußsstseins’ auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu ’erkennen’, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als ’ausser uns’ zu sehn... Die grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente - unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte - ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht- Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen..." [12]
Freuds "revolutionäre" Leistung war die Dechiffrierung des Prototyps der psychischen Störungen, der Hysterie, als eines sozial induzierten Leidens, eines Leidens an der Gesellschaft (Ferenczi [13]). Metapsychologisch formuliert, handelte es sich bei Freuds Neuerung um eine zweifache Grenzverschiebung. Deren erste - die Einschränkung und Relativierung der Sphäre des Psychisch-Bewußten (also des Ichs) zugunsten der Sphäre des Psychisch-Unbewußten - gilt allgemein als die bedeutendste Freudsche Innovation. Dadurch wird seine zweite Entdeckung verdeckt, die eines Niemandslands zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten - bzw. zwischen "Geist" und "Natur" -, in dem die neurotischen Symptome und die kulturellen Institutionen (also private und kollektive "Religionen") situiert sind. Der Neurosentherapeut und Kulturdiagnostiker war auf eine Klasse von Phänomenen gestoßen, die, weil sie sich wie Naturtatsachen ausnahmen, vorschnell der "Natur" zugeschlagen wurden, obwohl es sich bei ihnen um larvierte Produktionen (oder Symptome) handelt, - genauer: um Hervorbringungen, deren Genese außerhalb des Bewußtseins ihrer Autoren blieb. Bei dieser zweiten Freudschen Grenzverschiebung handelt es sich um eine potentielle Erweiterung der Sphäre des bewußten Ichs, das sich unter günstigen Umständen seiner vergessenen Autorschaft erinnern kann, also Produktionen, die sich ihm gegenüber verselbständigt haben und seither einen eigenartigen Zwang auf es ausüben, wieder unter seine Kontrolle zu bringen vermag. Freud, ein moderner Ödipus, versuchte, das Rätsel der Hysterie zu lösen. Es erwies sich ihm als das Rätsel der Kultur. Um es damit aufzunehmen, mußte der Schüler Ernst Brückes den von seinen Lehrern, den physikalistisch orientierten Medizinern, gezimmerten "szientistischen" Deutungsrahmen, innerhalb dessen soziale Leiden (Sozialisationsleiden) entweder auf einen noch unbekannten organischen Defekt zurückzuführen sein mußten oder aber als Simulationen galten, aufbrechen. Die (Wieder-)Ent-deckung einer Klasse von pseudonatürlichen Institutionen der Seele und der Kultur, deren Genese im Schatten des Bewußtseins liegt und deren daraus resultierende Zwangsgewalt über Individuen und Kulturen durch Anamnesis, also durch die Aufdeckung ihrer Genealogie gebrochen werden kann, war Freuds eigentliche Leistung. Die Psychoanalyse ist darum keine Natur- und auch keine Geisteswissenschaft, sondern eine "unnatürliche Wissenschaft", die es, Erklären und Verstehen kritisch kombinierend, mit dem Befremdlichen, dem Unheimlichen in uns selbst und in unserer Kultur aufnimmt. Das psychoanalytische Verstehen beginnt mit der Verfremdung des scheinbar Selbstverständlichen (in der "Widerstandsanalyse" [14]) und führt zur Entdeckung eines Eigenen im Fremden (wie in Totem und Tabu [15]).
"Kritische" Theorien sind kritisch, sofern sie sich vom Common sense unterscheiden. Ihre "Rezeption" läuft in der Regel darauf hinaus, daß die neue Einsicht, die sie formulieren, dem Common sense, von dem sie sich absetzten, Zug um Zug wieder angeglichen wird. Die Geschichte der Psychoanalyse ist die Geschichte einer solchen Erosion, die Geschichte des Vergessens der nonkonformistischen Einsichten Freuds, also jener "Übertreibungen", die das Wahre an der neuen Theorie der Seele und ihrer Geschichte ausmachen (Adorno [16]). Die Geschichte der Intellektuellengruppe, die sich die "Psychoanalytische Bewegung" nannte, ist die Geschichte der Verwandlung einer "Untergrundbewegung" (Bernfeld) - "kleiner wissenschaftlicher Klubs, die sich aus einigen Außenseitern und Flüchtlingen der medizinischen Profession und ein paar Leuten der nichtmedizinischen Avantgarde zusammensetzten" [17] - in eine Zunft von Fachärzten, die mitnichten für die Freudsche Aufklärung, sondern von deren therapeutischer Verwendung leben.
Der erste Weltkrieg zerstörte die Hoffnungen der liberalen europäischen Intelligenzija, die auch der Neurosentherapeut Freud in gewissem Maße geteilt hatte, auf einen friedlichen Progreß zu einer Gesellschaft des "ewigen Friedens" (Kant). Freuds Reaktion auf diese Erfahrung war die Explikation der Theorie der Kultur, die seiner Neurosentherapie seit ihren Anfängen (in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts) zugrunde lag. Bei dieser Theorie handelt es sich um eine "kritische", weil die Kulturgeschichte im ganzen und die Kultur der Gegenwart in ihr so präsentiert werden, wie sie sich aus der Perspektive ihrer Opfer, der großen Mehrheit der Erniedrigten und Beleidigten, ausnehmen. [18] Weil auch unsere Kultur Mangel und Ungleichheit fortschreibt und die Hoffnungen ihrer Teilhaber auf eine Entschädigung für die ihnen abverlangten Triebverzichte so wenig erfüllt wie ihre Vorgänger, sind die Individuen "virtuell" Feinde der Kultur, der sie doch ihr Überleben verdanken. [19] Freuds literarische Produktion in den Jahren 1920 bis 1939 war der Explikation der Theorie der Kultur gewidmet, die seiner Psychologie und der psychoanalytischen Therapie zugrunde liegt. Auf die "naturphilosophische" Grundlegung dieser Kulturtheorie in der Schrift Jenseits des Lustprinzips [20] folgte 1921 Freuds Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse [21], in der er zum einen das Auftreten der nationalistischen "massenfeindlichen Massenbewegungen" des Jahres 1914 sich und seinen Zeitgenossen theoretisch verständlich zu machen suchte, zum anderen die Erfahrungen mit den revolutionären Massen, die dem Krieg spät, aber doch ein Ende machten, einbrachte und schließlich noch die Nachkriegs-Erfahrungen mit den konterrevolutionär mobilisierten Massen, die die durch die Revolutionen erzielten Fortschritte wieder auszulöschen suchten. Auf die Kritik der "Massenpsychologie" folgte 1927 die Skizze einer systematischen Theorie der Kultur(en) im Rahmen des religionskritischen, an Ludwig Feuerbach orientierten Dialogs Die Zukunft einer Illusion. In der Schrift über Das Unbehagen in der Kultur (aus dem Jahre 1930) [22] wurde die in Jenseits des Lustprinzips entwickelte (dritte) Triebtheorie für eine Theorie der kulturellen Institutionen fruchtbar gemacht. Den Abschluß bildeten die in den Jahren 1934-1937 geschriebenen Moses-Traktate, die dem Problem der Tradition als dem Kernstück einer kritischen Theorie der Kultur gewidmet sind. [23]
Das Ensemble dieser kulturtheoretischen Schriften macht - neben den voranalytischen aus den achtziger und neunziger Jahren des 19. und den psychologischen Schriften aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts - die dritte Werkgruppe der Freud-Schriften aus. So wenig - vor der Veröffentlichung der Briefe an Wilhelm Fließ im Jahre 1950 [24] - die Bedeutung der (nicht in die Gesammelten Werke aufgenommenen) voranalytischen Schriften (z. B. der Aphasie-Studie [25]) für die psychoanalytische Metapsychologie von den Freudianern gesehen wurde, so wenig Bedeutung hatten Freuds kulturtheoretische Schriften für die Vertreter des psychoanalytischen Mainstreams. Sogar die Theoretiker des linken, an der Vermittlung von Soziologie und Psychologie interessierten Flügels der Psychoanalytischen Bewegung (Fromm, Reich, Bernfeld, Fenichel und andere) wußten kaum etwas damit anzufangen. [26] Freuds späte Arbeiten galten als randständig und problematisch, ihre Bedeutung für das Verständnis des Faschismus und des Stalinismus wurde nicht gesehen. Die Zielsetzung der Schrift über die Massenpsychologie (Freuds Theorie des Nationalismus) wurde verkannt; die Moses-Traktate sind erst in jüngster Zeit - von Autoren wie Yerushalmi [27] oder Assmann [28] - angemessen rezipiert worden.
Daß in der kapitalistischen Entwicklung Fortschritt und Barbarei Hand in Hand gehen, hatten aufmerksame Beobachter schon an den Konterrevolutionen und Kolonialkriegen des 19. Jahrhunderts abgelesen. Im ersten Weltkrieg aber verwandelten sich vor aller Augen die modernsten Produktivkräfte in solche der Destruktion. Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft stellte auch die Grundlagen der Psychoanalyse in Frage. Das von Freud entwickelte Strukturmodell der Psyche war an einer bestimmten historischen Situation orientiert. Im Makrokosmos der bürgerlichen Gesellschaft wurden immer mehr Selbständige zu abhängig Beschäftigten; das kleine und mitlere Eigentum verlor an Bedeutung. Immer weniger Menschen vermochten es, dem kulturellen Ideal der liberalen Epoche, der Autonomie, nachzuleben. [29] Dem entsprach im seelischen Mikrokosmos das prekäre Kräfteverhältnis zwischen dem auf Selbsterhaltung in der Ananke-Welt orientierten, bewußten Ich und seinen bewußtseinsfernen Gegenspielern - dem internalisierten Deposit gesellschaftlicher Zwänge und den realitätsblinden Triebwünschen. In Freuds Schriften erscheint darum das "Ich" nicht, wie in der von späteren psychoanalytischen Theoretikern entwickelten "Ich-Psychologie", als eine quasi-autome (über desexualisierte Triebenergie verfügende) Kompromißbildungs- und Entscheidungs-Instanz, sondern als ein Clown, der Autonomie nur simuliert. [30] Freilich muß und kann dieser Clown zwischen den Mächten, die ihm Angst einflößen - der naturalen und sozialen Realität, dem Gewissen und den Trieben - vermitteln. Am Anspruch auf Selbständigkeit hält er noch fest, indem er sie fingiert. In dem Maße aber, in dem die für die moderne Gesellschaft zentrale Institution, der Markt - zusammen mit den dem Marktmodell nachgebildeten Institutionen der parlamentarischen Demokratie, der pluralistischen Öffentlichkeit und der freien Forschung - durch Monopolbildung und staatliche Interventionen eingeschränkt und relativiert wird, die indirekte Vergesellschaftung über den Tausch durch Formen direkter ökonomischer und politischer Herrschaft ergänzt oder ersetzt wird, bildet sich auch der "innere Markt", das psychische Forum, zurück. Wenn der Ich-Clown kapituliert, büßt die als (sein) "Gewissen" internalisierte - und damit auch individualisierte - soziale Gewalt an Direktionsmacht ein. Um Halt zu finden, delegiert das geschwächte Ich sein Gewissen neuerlich an äußere Gewalten. Die längst nicht mehr an Stamm und Boden gebundenen, vielmehr über den Markt vergesellschafteten Individuen kapitulieren vor den neuen gesellschaftlichen Mächten und ihren politischen Repräsentanten; sie regredieren, das heißt, sie entschlagen sich des Kulturideals der personalen Autonomie, dem sie nicht mehr nachzukommen vermögen. Sie fliehen vor einer real möglichen, erweiterten Freiheit, vor der Selbstbefreiung, und gliedern sich ein in die (ethnisch und religiös definierten) imaginären Großgemeinschaften von Nation, Block und Partei; sie folgen blind (nämlich: gewissenlos) den Kommandos derjenigen, die sich zu Führern solcher neuen Gefolgschaften aufwerfen. Formiert als Massen, stürmen sie die Kultur und instrumentalisieren deren technisch-organisatorischen Apparat, um das vermeintliche Interesse einer Ethnie, einer Glaubensgemeinschaft, einer Nation oder Klasse mit Hilfe von Pogromen, Massakern oder Genoziden gegen Feinde durchzusetzen, innere und äußere.
Die Krise der gegenwärtigen Kultur ist, Freud zufolge, ein Resultat der modernen Entzauberung der Welt, die mit einer enormen Steigerung der menschlichen Produktivkraft Hand in Hand ging und den Glauben an einen heilsgeschichtlichen Sinn des menschlichen Lebens erschütterte. Wachsen auf der einen Seite der aktuelle und der potentielle Reichtum der Gesellschaft(en) ins Ungemessene, scheint also ein "Goldenes Zeitalter" nahe, so besteht doch die überkommene Ungleichverteilung der neu erworbenen Reichtümer fort. Die Koexistenz von Minderheiten, die bereits in irdischen Paradiesen leben, und von pauperisierten Mehrheiten wird vor allem deshalb zu einer unerträglichen, weil sich, nachdem an ein besseres Jenseits schon keiner mehr glaubt, aus dem Elend im Diesseits kein Trost mehr schöpfen läßt. Scheint ihnen ihr Leben wenig wert und sehen sie keine Möglichkeit, es zu ändern, dann dissoziieren sich die luxurierenden Triebe der vergesellschafteten Individuen. "Triebentmischung" führt zur Freisetzung von nur schwer kontrollierbaren destruktiven Impulsen. Das ist die Stunde der Demagogen, die die destruktiven Energien desindividualisierter Massen kanalisieren, sie gegen "Fremde" drinnen und draußen, gegen Staatsfeinde und Verräter im Inneren des Landes und gegen "Erbfeinde" jenseits der Grenzen richten. Sobald die Zerstörungswut der Massen und ihrer Führer sich der modernsten Technik bedient, wird die Selbstauslöschung der Menschengattung zu einer realen Möglichkeit. [31] Ein knappes Jahrzehnt vor dem zweiten Weltkrieg sah Freud die europäische Kultur dem Untergang geweiht, sofern nicht "der ewige Eros" "eine Anstrengung machen" werde, seinem "ebenso unsterblichen" Gegenspieler Thanatos Paroli zu bieten. [32] Diesen mythologisch umschriebenen Ausweg aus dem Dilemma der Moderne versuchte ein Vierteljahrhundert später Herbert Marcuse soziologisch zu reformulieren. [33] In Die Zukunft einer Illusion hat Freud (1927) das Projekt einer konsequent antireligiösen Erziehung als einen möglichen Ausweg aus dem kulturellen Dilemma ventiliert. Gehe die antireligiöse Erziehung mit der Reduktion von sozialer Ungleichheit Hand in Hand, so könnte eine neuartige, unter den Kulturteilhabern frei paktierte Sozialmoral an die Stelle der religiös fundierten Zwangsmoral treten. In seiner gegen den Rückfall auf die Massenpsychologie gerichteten Schrift von 1921 skizzierte er eine dritte Möglichkeit, aus dem Labyrinth der Kultur herauszufinden. Hier heißt es, eine Kultur, die auf die Masseneinbindung der ungleich gestellten und unfrei gehaltenen Individuen verzichten könne, brauche auch deren Sexualität nicht mehr zu unterdrücken. Sie benötige die zielgehemmten sexuellen Strebungen ihrer Mitglieder nicht mehr zur Erzeugung von illusionärer Gemeinschaftlichkeit, trete also nicht mehr als Parasit der Primärtriebe auf: "Wir können uns [...] sehr gut vorstellen, daß eine Kulturgemeinschaft aus [...] Doppelindividuen bestünde, die, in sich libidinös gesättigt, durch das Band der Arbeits- und Interessengemeinschaft miteinander verknüpft sind. In diesem Falle brauchte die Kultur der Sexualität keine Energie zu entziehen." [34]
Die psychoanalytische Therapie ist an das spezifische Arrangement der "Kur" gebunden. Es schafft für den Therapeuten wie für den Patienten einen Freiraum, in dem die herrschenden gesellschaftlichen Tabus episodisch abgeschwächt oder aufgehoben werden. Solche Lockerung der Zensur ermöglicht das Auftauchen "freier Assoziationen", also von Kassibern, die aus dem Ghetto des individuell und gesellschaftlich Unbewußten herausgeschmuggelt werden. Aus solchen Botschaften macht sich die Zwei-Personen-Interpretationsgemeinschaft allmählich ein Bild vom Zensurierten, von der Geheimgeschichte dessen, der Heilung sucht, und bereitet damit einer Revision seiner Lebenspraxis den Weg. Ob die Aufhebung der Verpönung Bestand hat oder ein Wunschtraum bleibt, entscheidet sich erst, wenn der Patient, der zu sich selbst in ein freieres Verhältnis getreten ist, auf den Rückhalt der "Kur" verzichtet und, auf sich gestellt, "anders" zu leben versucht. Wie der individuelle Patient, so ist auch die Gemeinschaft freudianischer Interpreten - und so war auch die "Psychoanalytische Bewegung" - auf institutionalisierte gesellschaftliche Freiräume und auf reale Möglichkeiten gesellschaftlicher Emanzipation angewiesen.
Aus Archivmaterialien, vor allem aus Freud-Briefen, die erst im Laufe der vergangenen 15 Jahre, also nach der dritten psychoanalytischen "Weltanschauungsdebatte" [35], veröffentlicht worden sind, geht hervor, daß Freud die Hoffnung, ein Umschlagen des zivilisatorischen Fortschritts in Barbarei werde sich (durch antireligiöse Erziehung, egalitäre Politik und sexuelle Revolution) abwenden lassen, etwa ein Jahr vor der Bildung der Regierung Hitler aufgab. Im Frühjahr 1932 war er überzeugt, daß die Freiheit verbürgenden Institutionen Markt, Öffentlichkeit, Parlament und Universität den massenfeindlichen Massenbewegungen zum Opfer fallen würden. Für die von ihm zur Verteidigung der neuen Einsichten der psychoanalytischen Aufklärung geschaffene internationale Organisation bestand also höchste Gefahr.
An Marie Bonaparte schrieb er im Sommer 1933:
"Die politische Lage haben Sie selbst erschöpfend beschrieben. Mir scheint es, nicht [einmal] im Krieg haben Lüge und Phrase so uneingeschränkt geherrscht wie jetzt. Die Welt wird ein großes Zuchthaus, die ärgste Zelle ist Deutschland. [...] Sie haben dort mit der Todfeindschaft gegen den Bolschewismus begonnen und werden mit etwas enden, was von ihm nicht zu unterscheiden ist. Außer vielleicht, daß der Bolschewismus doch revolutionäre Ideale aufgenommen hat, der Hitlerismus [hingegen] nur mittelalterlich-reaktionäre. Selbst nicht mehr recht lebenskräftig, erscheint mir diese Welt als zum nahen Untergang bestimmt." [36]
Um die Psychoanalyse, ihren Geist und ihre Institutionen zu retten, gab es nach Freuds Auffassung nur eine Möglichkeit: sie aus dem wieder aufflammenden europäischen Bürgerkrieg herauszuhalten. Wie? Indem der offensichtliche Zusammenhang zwischen der psychoanalytischen Aufklärung und der Gesellschaftskritik, zwischen der psychoanalytischen und den politischen und künstlerischen Avantgarden geleugnet, die Psychoanalyse entpolitisiert, also re-szientifiziert wurde. Schlüpfte sie in das Gewand einer "normalen" Wissenschaft, konnte sie "weltanschauliche" Neutralität wie andere Naturwissenschaften auch beanspruchen. Vielleicht könnte es seinen Anhängern derart gelingen, den Ansturm der neuen Barbaren inkognito zu überdauern und wenigstens einen Teil der von ihnen errungenen neuen Einsichten in bessere Zeiten hinüberzuretten.
Um die Frage, was für eine Art Wissenschaft die Psychoanalyse sei und wie ihre Beziehung zu den bürgerlichen Parteien, den faschistisch mobilisierten Zwischenklassen und zu den verschiedenen Fraktionen der Arbeiterbewegung beschaffen sei, drehte sich die "Weltanschauungs"-Debatte, die die Psychoanalytiker in den Jahren 1928 bis 1933 untereinander ausfochten. Siegfried Bernfeld vertrat (1928) die These, die Psychoanalyse sei eine Wissenschaft von "eigenartigem Charakter": Sie "versorge zwar alle Weltanschauungen mit Fakten", habe aber "für die verschiedenartigen Weltanschauungslager sehr verschiedenen Wert", weil sie "dem einen Waffe, dem anderen Angriff" bedeute. "Will man sie überhaupt verwenden und nicht als reine Wissenschaft genießen, so wird sie zur Zerstörerin. Sie zeigt Religion, Kultur, Kunst, Philosophie, Moral, als ein Gewordenes, Bedingtes..." [37] Im Anschluß an Bernfeld schrieb Wilhelm Reich 1933: "Der Charakter ihrer Entdeckungen" macht die Psychoanalyse "zu einem Todfeind der politischen Reaktion. Man mag sich hinter Illusionen wie dem Glauben an eine ’unpolitische’, das heißt der Politik völlig disparate Natur der Wissenschaft verstecken: Das wird" "die politischen Mächte nie daran hindern, die Gefahren zu wittern, wo sie in der Tat liegen, und dementsprechend zu bekämpfen." "Ich sehe daher die wichtigste Aufgabe heute darin, nicht die Existenz der Analytiker um jeden Preis, sondern die der Psychoanalyse und ihrer Weiterentwicklung zu sichern." [38] Die Gegenposition bezog Heinz Hartmann, der 1927 - in seinem Buch über Die Grundlagen der Psychoanalyse [39] - einen groß angelegten Versuch unternommen hatte, die Freudsche Aufklärung in den Rahmen der neukantianischen Auffassung von Wissenschaft zu pressen. "Wissenschaft" hat es, dieser Konzeption zufolge, lediglich mit der Rationalisierung von Mitteln zu vorgegebenen, nicht wissenschaftlich zu erörternden Zwecken zu tun. Das war eine (verdeckte) Kampfansage an die Freudsche Religionskritik und lief auf die "Verwissenschaftlichung" (das heißt, auf die Instrumentalisierung) der Psychoanalyse hinaus. Freuds eigene Stellungnahme zur "Weltanschauungs"-Debatte konvergierte im wesentlichen mit der von Hartmann vorgetragenen: In seiner Neue[n] Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse schrieb er (1932), der Psychoanalyse sei "keine besondere" Weltanschauung eigen, sie vertrete lediglich die wissenschaftliche, also anti-illusionäre. [40]
Dann begann er, die ihm vorschwebende Rettung der Psychoanalyse durch Mimikry an den Wissenschaftsbetrieb in die Tat umzusetzen. Die psychoanalytische "Rechte", die abenteuerlich psychologistischen Exkursionen der Kolnai, Laforgue oder Glover in die Gesellschaftstheorie, hatte Freud nie einer Kritik gewürdigt. Auch die latent nationalistisch-antisemitische "Weltanschauung" einiger seiner Anhänger wurde von ihm nie thematisiert. Doch als Reich, der in Wien und Berlin als Agitator der SPÖ bzw. der KPD auftrat und eine prokommunistische Jugendorganisation (die "Sexpol") gegründet hatte, in einem Artikel in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse, die damals von Otto Fenichel redigiert wurde, gegen die Todestrieb-Hypothese argumentierte, setzte Freud Fenichel als Redakteur ab und verlegte die Redaktion der Zeitschrift von Berlin nach Wien, wo er sie Heinz Hartmann und Paul Federn übergab. In einem Brief an Lampl de Groot schrieb er damals, er müsse "gegen die bolschewistischen Angreifer, Reich, Fenichel" Front machen ("cleansing of the press"). [41] Der "Bolschewismus" der Reich und Fenichel bestand im wesentlichen darin, daß sie Freuds biologischen (oder anthropologisch-Feuerbachianischen) Materialismus zu einem historischen erweitern wollten, was darauf hinauslief, Freuds allgemeine (kritische) Theorie der Kultur historisch zu spezifizieren oder: Psychologie und Soziologie zusammenzudenken. Das Interesse der damaligen "Freudschen Linken" konvergierte durchaus (auch wenn sie selbst das nicht wahrnahmen) mit dem Interesse Freuds an einer Explikation seiner Theorie der Kultur. Aber er glaubte, der ihm als Rettung der Psychoanalyse vorschwebenden Neutralisierung ein Bauernopfer bringen zu müssen. In einer jähen Wendung gegen den noch Ende der zwanziger Jahre von ihm als Gesprächspartner wie als Kliniker geschätzten Reich - der nun als "Bolschewist" zu einem Sicherheitsrisiko für die "Psychoanalytische Vereinigung" geworden war - verbündete er sich im April 1933 mit zwei deutsch-nationalen Berliner Psychoanalytikern. Er versprach Felix Böhm und Carl Müller-Braunschweig (der wenig später das berüchtigte "Memorandum" formulierte [42], in dem er die Psychoanalyse dem Nationalsozialismus amalgamierte [43]), sie - nach der Ablösung des nicht-arischen Vorstands der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft - als neuen Vorstand zu akzeptieren, sofern sie Harald Schultz-Hencke aus dem Vorstand heraushielten und ihn (Freud) von Wilhelm Reich "befreiten". [44] Reich wurde daraufhin (ohne sein Wissen) de facto und im Jahr darauf (1934) auch formell aus der "Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft" und aus der "Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung" ausgeschlossen.
1932 brach Freud auch den Kontakt zur subversiven künstlerischen Avantgarde der um André Breton gescharten Pariser Surrealisten [45] ab. Breton sah in Freud - nach dem Marquis de Sade und Charles Fourier - den dritten großen Befreier der menschlichen Triebe, der das Verlangen, den Wunsch als die Achse aller menschlichen Angelegenheiten anerkannt und damit eine weitreichende Revision unseres Selbstverständnisses in Gang gebracht hatte: "Die großartigen Entdeckungen Freuds kommen im rechten Augenblick, um den Abgrund für uns auszuleuchten, der sich nach der Abdankung des logischen Denkens und im Gefolge des Zweifels an der Verläßlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung auftut." [46] Das von Freud entwickelte Verfahren, Patienten zu "freien Einfällen" zu animieren, die - ähnlich wie subversive Witze - die verinnerlichte gesellschaftliche Zensur übersprangen, war das Vorbild des von Breton und Soupault (1919) favorisierten "automatischen Schreibens" [47], das den Autoren die Erfindung von unerhörten literarischen Metaphern ermöglichen sollte. Breton schickte Freud ein Exemplar seines im Mai 1932 erschienenen Buches Die kommunizierenden Röhren [48], bei dem es sich um einen langen Essay über die Verschränkung von Tag und Traum, Wirklichkeit und Möglichkeit, Kunst und Politik handelte. [49]
"Wir waren, meine Freunde und ich, zu jener Zeit [im April 1931] an dem Punkt angelangt, da wir versuchten, uns über die Bedingungen einer spezifisch antireligiösen Kampagne zu verständigen, auf die wir uns hatten beschränken müssen, weil uns" [im Rahmen der französischen Kommunistischen Partei] "keine andere Form des gemeinsamen Handelns mehr möglich erschien. [...] Ich für mein Teil sah mit Schrecken, wie gründlich ein solches Projekt an meinem Leben und an meinen spezifischen Interessen vorbeiging. Man wird einst zu der Einsicht gelangen, daß das A priori für die Existenz des Surrealismus, so wie wir als Gruppe ihn über Jahre hin verstanden haben, [die] nicht-arbeitsteilige Tätigkeit war. Ich wünschte mir, für das Beste an ihm gälte sein Versuch, den Kontakt herzustellen zwischen den getrennten Welten des Wachens und des Schlafs, der äußeren Wirklichkeit und der inneren, der Vernunft und des Wahnsinns, der leidenschaftslosen Erkenntnis und der Liebe, des Lebens um des Lebens willen und der Revolution [...]." [50]
Freud, der Autor nicht nur der Traumdeutung [51] und der sozialpsychologischen Analyse der literarischen Form des Witzes [52], sondern auch des bedeutenden poetologischen Essays "Der Dichter und das Phantasieren" (aus dem Jahre 1908) [53], ging in zwei Antwortbriefen zunächst nur auf die drittrangige Frage ein, ob Volkelt oder Scherner der Entdecker der Traumsymbolik gewesen und ob Volkelts Buch im Literaturverzeichnis sämtlicher Auflagen der Traumdeutung aufgeführt worden sei. Dann aber zeigte er dem Surrealisten die kalte Schulter: "Ich erhalte soviel Zeugnisse dafür, daß Sie und Ihre Freunde meine Forschungen schätzen, aber ich selbst bin nicht im Stande, mir klarzumachen, was Ihr Surrealismus ist und will. Vielleicht brauche ich, der ich der Kunst so fern stehe, es gar nicht zu begreifen. In herzlicher Ergebenheit Ihr Freud." [54] Ende 1932 schien es Freud, er brauche nun ganz andere Bundesgenossen.
Ihre szientistische Tarnung hat der Psychoanalyse wenig genutzt und viel geschadet. Die Mehrheit der Psychoanalytiker wurde in den dreißiger Jahren aus ihren beiden Bildungszentren Berlin und Wien verjagt; im Berliner "Reichsinstitut für Psychologische Forschung und Psychotherapie" (wie es in den letzten Kriegsjahren hieß) führten die verbliebenen arisch-nichtsozialistischen Psychoanalytiker eine kümmerliche Katakombenexistenz; in der Emigration verkümmerte - wie aus den klandestinen "Rundbriefen" hervorgeht, die Otto Fenichel zwischen 1934 und 1945 für einen kleinen Kreis von gleichgesinnten Kollegen schrieb [55] - das Projekt einer soziologisch aufgeklärten Psychoanalyse; in Hitlers Herrschaftsbereich wurden nicht wenige Psychoanalytiker verfolgt und umgebracht (ich erinnere an Edith Jacobson, Sabina Spielrein, John F. Rittmeister, István Hollós und Karl Landauer).
Daß die "Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft" und die Psychoanalytische Internationale Wilhelm Reich in den Jahren 1933/34 ausgeschlossen haben, wurde von den Verbandsfunktionären und -historikern (Ernest Jones und anderen) bis in die jüngste Zeit hinein geleugnet. Doch dieser Ausschluß - und die Trennung der Psychoanalyse von Soziologie und Politik, die er symbolisiert - haben in der Verbandsgeschichte Epoche gemacht. Freuds "Bereinigung" von 1932, sein Versuch, die Psychoanalyse als Institution durch das Kaschieren ihres kulturrevolutionären Impetus’ zu retten, wurde von seinen Nachfolgern festgeschrieben. Sie machten aus der Not von 1932 ihre Tugend für alle Zukunft. Hören wir Ernest Jones auf dem Züricher Nachkriegskongreß der IPV von 1949:
"Since the last Congress took place eleven years ago great and terrible events have shaken the world, and our own analytical community has not been spared. [...] The terrific social and political movements and changes we have witnessed of recent years compel more urgently than before a consideration of the relationship between the layers of the mind that are the object of our special study and the powerful ideational and emotional accompaniments of those social movements. [...] The temptation is understandably great to add socio-political factors to those that are our special concern, and to re-read our findings in terms of sociology, but it is a temptation that, one is proud to observe, has, with very few exceptions, been stoutly resisted." [56]
Die von Freud in den frühen dreißiger Jahren vorgenommene politische Weichenstellung hat die seitherige Geschichte der Psychoanalyse entscheidend geprägt. Die psychoanalytische Kulturkritik ist von der psychoanalytischen Therapeutik abgeschnitten und damit zu einer Theorie ohne Praxis geworden; sie gehört inzwischen mehr oder weniger der Literaturgeschichte an. Versuche, Soziologie und Psychoanalyse miteinander zu kombinieren oder aneinander zu korrigieren, sind nach demjenigen von Talcott Parsons - der Freuds Theorie freilich für seine Zwecke zurechtstutzte [57] - kaum mehr unternommen worden. [58] Die Psychoanalyse hat sich von den emanzipatorischen Strömungen in Kunst und Politik ebenso wie von den übrigen Geistes- und Sozialwissenschaften isoliert. Der "spintisierende Psychologismus" (Adorno), gegen den einst Fenichel [59] argumentiert hatte, konnte sich ungehemmt entfalten. Eine Rezeption der "Frankfurter Schule", deren Theoretiker die seit den dreißiger Jahren verödete sozialphilosophische Dimension der Psychoanalyse kultivierten, kam ebensowenig zustande wie eine Rezeption der Schriften von Georges Bataille. Neuerer von Rang, wie Lacan, wurden zu Abweichlern gestempelt und (wie einst Reich) ausgeschlossen. Inzwischen weiß die amputierte oder "medizinalisierte" (Paul Parin) Psychoanalyse längst selbst nicht mehr, was sie war und was sie ist. Sie heilt noch immer, hilft ungezählten Patienten, ihre zerrissenen Biographien wieder zusammenzuflicken. Ihre Adepten aber halten (von wenigen "weißen Raben" abgesehen) politische Abstinenz und Fügsamkeit für eine professionelle Tugend. Der Schlaf der Vernunft wird von den heutigen Freudianern kaum mehr gestört.
Eine Rekonstruktion der Geschichte der Psychoanalyse in den dreißiger und vierziger Jahren ist vor allem dadurch erschwert worden, daß die Hauptakteure - Jones in England wie Müller-Braunschweig in Deutschland - versuchten, durch die Erfindung von Vereins-Legenden bzw. durch die Vernichtung von Dokumenten ihre Spuren zu verwischen. Dies Symptom bezeugt immerhin, daß sie eine Ahnung davon hatten, was sie einst opferten, um die Psychoanalyse als Institution zu bewahren. Noch die heutigen Verbandshistoriker stehen im Bann der alten Legenden und tendieren dazu, den symbolträchtigen Ausschluß Reichs zu rechtfertigen und die Folgen der Freudschen Wendung im Jahre 1932 zu verharmlosen. [60] In ihrer Optik hat die Psychoanalyse die finsteren Zeiten des "Dritten Reichs" überlebt und danach ihre Geschichte erfolgreich fortgesetzt. Zu fragen bleibt allenfalls, "welche Gravuren der Nationalsozialismus in der Geschichte der Psychoanalyse nach dem Krieg hinterlassen hat." [61] Ob etwa der Nationalsozialismus die Psychoanalyse-Geschichte demolierte, statt sie nur zu gravieren, und ob die Psychoanalyse nach den dreißiger und vierziger Jahren überhaupt noch dieselbe war wie zuvor, diese Frage kann von den verbandsloyalen Historikern nicht einmal aufgeworfen werden. [62]
Der Faschismus hat in den dreißiger Jahren die europäische Arbeiterbewegung als eine revolutionäre Massenbewegung ausgelöscht. Von ihrer damaligen Niederlage hat sie sich nie mehr erholt. Er hat auch die "Psychoanalytische Bewegung" zum Stillstand gebracht. Die in den achtziger Jahren noch einmal aufgeflammte Hoffnung auf eine Selbstreform der psychoanalytischen Berufsverbände (durch die Entwicklung neuer Organisationsformen, eine Rückkehr zur "Laienanalyse", die Öffnung zu den Sozialwissenschaften und eine Repolitisierung der Psychoanalytiker) hat getrogen. Die "Psychoanalytische Bewegung" ist Geschichte. Die Freudsche Aufklärung aber wird noch manche Götzendämmerung und manche Sozialrevolution inspirieren.
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Helmut Dahmer, Regression einer kritischen Theorie (Vortrag rru, 2001)