Morris Vollmann
Psychoanalytische Kulturkritik als radikale Moralkritik?
Freuds antimoralisches Selbstmissverständnis
Die Kulturkritik Sigmund Freuds ist auch, aber nicht vorrangig Technik- und Gesellschaftskritik. Seine Aufmerksamkeit widmet Freud insbesondere den religiösen Institutionen und ethischen Idealen, die sich gemäß der psychoanalytisch fundierten Rekonstruktion der humanen Onto- und Phylogenese als Elemente der entstellten Wiederkehr des verdrängten Urvatermords erweisen. Dass die menschliche Kultur jederzeit in barbarische Zustände zurückfallen kann, sei nicht zuletzt eine Konsequenz der durch die maßlosen sittlichen Ansprüche des Christentums verursachten neurotischen Defekte. Da die Moralphilosophie für Freud nur die weltanschauliche Fortsetzung der religiösen Illusion mit anderen Mitteln darstellt, wendet er sich konsequent gegen sie und einen ihrer prominentesten Vertreter, indem er den Kantischen Begriff des Kategorischen Imperativs destruiert. Allerdings übersieht Freud dabei das radikal kritische Potential der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft, die Freuds eigene Reformbestrebungen systematisch und argumentativ in dem bestärken könnte, was sie im Kern bezwecken: nicht eine Aufhebung der Moral an sich, sondern der repressiven Sexualmoral.
(erschienen in: Sven Ellmers/Ingo Elbe (Hg.): Die Moral in der Kritik. Ethik als Grundlage und Gegenstand kritischer Gesellschaftstheorie, Verlag Königshausen&Neumann, Würzburg 2011)