Christoph Hesse
Requiem für einen Staatsfeind
Zum Tode von Johannes Agnoli
Am 4. Mai verstarb Johannes Agnoli im Alter von 78 Jahren in Lucca/Italien. Von 1967 bis 1990 war er Professor für Politologie an der Freien Universität Berlin. Mit Agnoli verliert nicht nur die Linke einen leibhaftigen "Klassiker", der fortan neben anderen ehrwürdigen Namen sein Geisterdasein in Bibliotheken und auf Wochenendseminaren fristen wird. Besäße die an sich schon traurige Wissenschaft von der Politik etwas vom Geist, den Agnoli ihr zeitweise beizubringen vermochte, hätte auch sie Grund zu weinen. Ein kurzer Nachruf auf den letzten Denker dieses Fachs.
Mit der "Transformation der Demokratie" wurde Agnoli 1967 zu einem der prominentesten Intellektuellen der Neuen Linken. Unsterblich beliebt wurde er als Dialektiker im altüberlieferten Wortsinn: als jemand, der zu denken, zu reden, zu überzeugen und sogar zu unterhalten verstand, was vor der Erfindung der danach benannten Medien einmal zu Recht als Kunst galt. Sein persönliches Motto beschrieb er in Anlehnung an Lenins Wort von der Geduld und Theorie, die ein Revolutionär in nicht-revolutionären Zeiten brauche, als Geduld und Ironie. Schon diese Eigenschaft hebt ihn erfreulich ab von vielen lästigen Vereinsritualen der Linken, die den Ernst der Lage allzu oft mit der Obligation zur eigenen Verbiesterung verwechseln. Wie ernst es Agnoli mit seiner Kritik von Staat und Kapital war, davon kündet vor allem sein Witz, gegen den die feierlichen Erklärungen und Resolutionen der Bewegung sich in der Tat lächerlich ausnehmen.
In seiner "Italienischen Reise" beschreibt Goethe, wie moralisch heilsam es ihm gewesen sei, "unter einem ganz sinnlichen Volke zu leben". Dass der gebürtige Italiener Agnoli das so gelobte Land als Kriegsgefangener verließ, um ausgerechnet an das unsinnlichste und unsinnigste Volk auf Erden zu geraten, war ein Segen vielleicht nicht für ihn, aber ganz sicher für die deutsche Linke, deren einschlägigen Bildungsweg er nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief, um sie bald eines Besseren zu belehren. Nach Aufenthalten u.a. in Tübingen, Köln und sogar in der SPD (die ihn 1961 ausschloss) kam Agnoli nach Westberlin, wo er den Republikanischen Club gründete, einen durch die spätere Protestbewegung zu Ehren gekommenen Diskussionszirkel.
Dass der erklärte Staatsfeind schließlich im Dienst des Staates politische Wissenschaft lehrte, hatte in diesem Fall allein mit List der Vernunft, nichts mit jenem dümmlichen Opportunismus zu tun, den sich andere, nachdem sie auch gedanklich in diesem Staat angekommen waren, als Marsch durch die Institution in ihre Biografien schreiben ließen. Wer sich in die Macht begibt, pflegte Agnoli zu sagen, wird darin glücklich. Im Unterschied zu vielen seiner ehemaligen Genossinnen und Genossen war er selbst zwar ungemein fröhlich, aber keineswegs glücklich: Sein Ziel war es nie, Außenminister, Showmaster oder nur Professor für Politologie zu werden, sondern den Staat zu stürzen. Daran ist er leider bis zuletzt gescheitert. In seiner Eigenschaft als Staatsfeind - als Feind nicht eines bestimmten Staates, sondern der Institution Staat, wie sie die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht und selbst noch auf den Staat gewordenen Sozialismus übertragen hat - ist Agnoli zweifellos Anarchist gewesen. Gegen dieses Etikett hat er sich selbst nie gewehrt, wenn es darum ging, die auch unter Linken verbreitete Staatsverliebtheit als aussichtslose Anbändelei zu desavouieren. Dazu musste man aber zunächst einmal eine Vorstellung davon haben, was Staat überhaupt ist. Als Staatstheoretiker, der nicht nur zerstören, sondern auch wissen wollte, was da zerstört werden muss, ist Agnoli andererseits zugleich Marxist gewesen und Beweis dafür, dass die Marxsche Theorie keine Wissenschaft von einem zu errichtenden Ameisenstaat, wie der parteiübliche Marxismus und dessen liberaler Gegenentwurf glauben machen, sondern tatsächlich der bessere Anarchismus ist. Der neu gegründeten Rifondazione Comunista versagte Agnoli zuletzt die Mitarbeit mit Hinweis darauf, dass er für parlamentarische Politik nicht zur Verfügung stehe. Diese Auffassung hat er nicht nur stets beibehalten, er konnte sie auch in unwiderstehlicher Form mitteilen.
Bei seinen Auftritten galt die Regel: Wer nach dreißig Minuten kein Kommunist ist, hat weder Herz noch Verstand. Mit Agnoli verliert die Linke auch einen ausgezeichneten Propagandisten, dessen Stärke es war, gar nicht als Propagandist, sondern als großer Erzähler in Erscheinung zu treten, der das Publikum nicht einschläfern oder einschüchtern wollte und ihm doch die Wahl nicht schwer machte. Hier wurde man entweder für die Sache selbst, wie Agnoli das mit Hegel nannte, kindlich begeistert oder aber kindisch wie die Leute, die angeblich erwachsen geworden sind und längst an viel schlimmere Märchen glauben.
Zu hören bekommen wird man von Johannes Agnoli leider nichts mehr. Dem Freiburger Ça ira-Verlag ist es allerdings zu danken, dass wenigstens Agnolis Schriften weiterhin zugänglich sind. Die bisher auf sechs Bände angelegte Gesamtausgabe umfasst neben Klassikern wie "Der Staat des Kapitals " und "Die Transformation der Demokratie", die in älteren Editionen noch gelegentlich antiquarisch zu haben sind, zahlreiche kleinere Arbeiten, Aufsätze und Reden, darunter auch eine Nachschrift von Tonbandaufzeichnungen seiner Berliner Abschiedsvorlesung, die unter dem programmatischen Titel "Subversive Theorie" der Nachwelt glücklicherweise erhalten geblieben ist.
Die Gesammelten Schriften von Johannes Agnoli im Ça ira-Verlag, Freiburg i.Br.:
– Bd. 1: Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik (1990)
– Bd. 2: Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik(1995)
– Bd. 3: Subversive Theorie. "Die Sache selbst" und ihre Geschichte (1996)
– Bd. 4: Faschismus ohne Revision (1997)
– Bd. 5: 1968 und die Folgen (1998)
– Bd. 6: Politik und Geschichte. Schriften zur Theorie (2001)
Außerdem: Christoph Burgmer: Das negative Potential. Gespräche mit Johannes Agnoli (2002)
Eine Situation des Bruchs. Interview mit Johannes Agnoli