Michael Krätke
Neoklassik als Weltreligion?
Die heute herrschende Lehre der neoklassischen Ökonomie ist eine formidable geistige Macht.
Sie beherrscht das politische Denken in allen kapitalistischen Demokratien (und in den nicht
weniger kapitalistischen Autokratien der vormals Dritten Welt nicht minder). Jahr für Jahr
werden weltweit Millionen angehender Intellektueller und zukünftiger »Führungskräfte« im
Einheitsdenkstil der herrschenden ökonomischen Lehre unterwiesen. Wie einstmals die
Beherrschung des Lateinischen oder später des Französischen ist heute die Beherrschung der
»Sprache der Ökonomie« eine der wesentlichen Bedingungen, um Zutritt zu den internationalen
Eliten in Politik und Wirtschaft zu erhalten. Diese Einheitssprache hat die politische Sprache
gründlich erobert: Politiker, die als »seriös« gelten wollen, haben gefälligst in der Sprache der
neoklassischen Ökonomie zu argumentieren. Kleinere terminologische Verwirrungen werden
ihnen leicht vergeben; auf die Geste, die bereitwillige Unterwerfung unter die vermeintlich
universelle Logik der ökonomischen Sachzwänge signalisiert, kommt es an. Die neoklassische
Ökonomie hat längst den Status einer »Zivil-« oder »Alltagsreligion« erreicht. Sie liefert die
Glaubenssätze, die Deutungsmuster und die Normen, an denen sich politisches wie soziales
Handeln überhaupt zu orientieren haben und woran sie sich messen lassen müssen. Sie tritt auf
als einzig legitime Vertreterin der »ökonomischen Vernunft« auf Erden.
(erschienen in: Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (Hrsg.), Realitätsverleugnung durch Wissenschaft. Kritische Interventionen 3, Die Illusion der neuen Freiheit, Hannover 1999)