Ingo Elbe
Kritische Theorie versus Kritik der politischen Ökonomie?
Kontroversen in der Debatte um ökonomische Gegenständlichkeit
Max Horkheimer hat – wie schon Karl Marx selbst - die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise treffend als „Verhängnis“ bezeichnet, dem die Menschen in dieser Gesellschaftsformation nicht zu entrinnen vermögen, obwohl es doch von ihnen immer wieder selbst hervorgebracht werde. Die Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie sei demnach leicht zu bestimmen: Sie „erklärt wesentlich den Gang des Verhängnisses“ . Die konkrete Gestalt dieser Erklärung, die Marx’ im ‚Kapital’ zu liefern beanspruchte, ist allerdings von der Kritischen Theorie kaum beachtet worden. Erst eine Generation direkter Schüler von Horkheimer und Adorno, wie Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt, hat sich seit Ende der 1960er Jahre diesem Thema gewidmet und dabei zugleich die klassischen marxistischen Deutungsmuster der Marxschen Theorie widerlegt. Doch auch diese Schülergeneration kämpft noch heute, mehr als 35 Jahre nach ihren ersten bahnbrechenden Veröffentlichungen , mit dem Verständnis der Marxschen Ökonomiekritik. Ware, Geld und Kapital sind gemäß dieser Theorie nämlich keine natürlichen Eigenschaften von Dingen, sondern historisch bestimmte Produktionsverhältnisse, die sachlich vermittelt werden, sich in Dingen darstellen und als Dinge erscheinen. Was es bedeutet, dass moderne Reichtumsformen weder bloßes Ding noch reine Intersubjektivität oder psychische Entität sind, das hat sich eine neue Marx-Lektüre als Leitfrage gestellt. So konstatierte Hans-Georg Backhaus in seinen ‚Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie’, die Seinsweise ökonomischer Objekte sei „eine gänzlich andere [...] als die von naturwissenschaftlich und psychologisch erfaßbaren Objekten und Prozessen“. Sie sei aber „ebenso wenig die von sozialen Normen, ideellen Gebilden und intelligiblen Wesenheiten“ . Und Jürgen Ritsert stellte im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Simmel die Frage, „ob es [...] gesellschaftliche Sachverhalte gibt, die sich nicht auf ‚Ideen’ zurückführen lassen, auch wenn sie überindividuell sind“ .
Über den Charakter dieser speziellen versachlichten, aber doch sozialen Seinsweise existieren nun innerhalb der an Marx und die Kritische Theorie anknüpfenden Theoriebildung kontroverse Einschätzungen, die in letzter Zeit vor allem in der Auseinandersetzung zwischen Helmut Reichelt und Dieter Wolf erkennbar wurden. Reichelt arbeitet zur Zeit an einem neuen Versuch zur rationalen Rekonstruktion des ‚Verhängnisses’ der Ökonomie, die im Folgenden kritisch betrachtet und mit Wolfs kritischen Anmerkungen konfrontiert werden soll.
(in zwei Teilen erschienen in CEE IEH Nr. 128/129 - 2006)