Hans-Ernst Schiller
Individualismus
Zur Kritischen Theorie der Individualisierung
Die Individualisierungsthese, die in Ulrich Becks Buch Risikogesellschaft formuliert wurde, ist mittlerweile in die Jahre gekommen und die Diskussion darüber ist etwas ruhiger geworden. Gleichwohl zeigt ein Blick auf die sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Publikationen, dass das Thema keineswegs „durch“ ist. Das kann auch gar nicht sein, denn das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist ein Kernthema der Sozialphilosophie (wahrscheinlich ihr zentrales Thema überhaupt) und die gesellschaftlichen Prozesse, auf welche die Individualisierungstheorie der 80 er Jahre gemünzt war, sind noch
nicht abgeschlossen, ihre Tendenz ist nicht umgekehrt.
Im Zentrum der Individualisierungstheorie steht bekanntlich die Feststellung, dass sich tradierte Großgruppen- oder Klassenmilieus auflösen oder zumindest an Bedeutung verlieren und dass auch die Familienbande zunehmend gelockert werden. Dadurch wächst der
Verantwortungszwang für die Individuen hinsichtlich ihres Selbstverständnisses und ihrer Lebensgestaltung, was möglicherweise auch Chancen eröffnen kann, d.h. einen positiven Freiheitsgewinn mit sich bringt. Es ist den Individualisierungstheoretikern entgegen gehalten
worden, dass Individualisierung keineswegs eine neue Erscheinung sei.
Dieser Einwand ist einerseits berechtigt, denn Prozesse der Loslösung aus tradierten Zusammenhängen sind eine Grundtendenz der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Der Einwand ist andererseits aber auch unfair und kontraproduktiv, wenn er Versuche diskreditieren will, den gegenwärtigen Stand des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu erforschen. Ich werde zunächst (Teil I) ganz grob an die Geschichte der Individualisierung erinnern, wobei ich mit Individualisierung im allgemeinen eine Steigerung des Selbstbewusstseins, der
Selbstverantwortlichkeit und der Selbsttätigkeit der Einzelnen meine. Mein Ansatzpunkt ist die Theoriegeschichte, das inhaltliche Anliegen besteht darin, zu verdeutlichen, dass Individualisierung eine Form der Vergesellschaftung ist, und dass Individualisierungsprozesse bislang immer mit ihrem Gegenteil, mit Kollektivierungs- und Standardisierungsprozessen verbunden waren, wobei nicht nur an politisch-rechtliche Institutionen oder angesellschaftliche Organisationen zu denken ist, sondern auch an Denkformen und Ideologien, die nicht zuletzt das verkörpern, was wir mit dem gnädig weiten Begriff der Kultur belegen.
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule vertrat in ihrer ausgereiften Form die These, dass die gesellschaftlichen Mächte eine solche Gewalt gewonnen haben, dass von einem Niedergang, ja sogar einer Liquidation des Individuums geredet werden müsse. Ich möchte im zweiten Teil meines Vortrags die jüngsten Individualisierungsprozesse etwas näher betrachten und darauf eingehen, wo die Analyse der Kritischen Theorie zum Begreifen der Individualisierung hilfreich sein kann.
Vortrag im Rahmen der Roten -Ruhr -Universität am 10.11.2004