Fabian Kettner
Yaacov Lozowick. Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen
Yaacov Lozowick. Hitlers Bürokraten. Eichmann, seine willigen Vollstrecker und die Banalität des Bösen München – Zürich: Pendo, 2000
Vor gut vierzig Jahren, am 31.05.1962, wurde Adolf Eichmann in Israel hingerichtet. Er war zuvor in Argentinien, wohin er sich nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus wie viele Nazis über Umwege geflüchtet hatte, vom israelischen Geheimdienst aufgespürt, nach Israel entführt, dort interniert und verhört worden. Dazwischen, vom 11.04. bis zum 11.12.1961, lag der Strafprozess, der in straf- und völkerrechtlicher Hinsicht umstritten und bemerkenswert war. V.a. aber diente er, ähnlich wie die sog. Auschwitz-Prozesse in der BRD in den 60ern, der Klärung der Tat- und Handlungsabläufe in den inneren Strukturen des NS-States, und zwar besonders des Vernichtungsapparates. Mit Eichmann hatte man den Fachmann für die Judenfrage im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) dingfest gemacht; der zunächst um die forcierte Auswanderung der Juden aus dem Reichsgebiet sich kümmerte und hierfür im Sommer 1938 in Wien eine vorbildlich und reibungslos funktionierende „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ einrichtete; der ab März 1941 Dezernent des berühmt-berüchtigten Referats IV B 4 im RSHA in der SS- und SD-Zentrale in Berlin war. Eichmanns Büro war die Schalt- und Koordinationsstelle der Vernichtung der europäischen Juden. Jeder Transport nach Auschwitz ging durch seine Akten.
Die Öffentlichkeit erwartete ein Monster, und der Staatsanwalt Gideon Hausner gab sich größte Mühe, Eichmann als solches darzustellen und ihn des direkten Mordes zu überführen. Beides musste scheitern. Viele Prozessbeobachter schilderten wie sein Verhörer Less Avner ihre Ernüchterung, ja Enttäuschung, als sie Eichmann zu Gesicht bekamen. Der bekannteste Bericht ist Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964), dessen Untertitel weltberühmt, ja zur festen Redensart und mit dem Eichmann zum Prototyp des biederen, gewöhnlichen Bürokraten wurde: mitnichten ein Dämon fanatisch verfolgenden Antisemitismus, sondern ein interesseloser, penibler Aktenwälzer, der immer nur autoritätshörig seine Pflicht tat, ungeachtet des Gegenstandes, mit dem er sich zu befassen hatte. „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ Laut Arendt „war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte, ... daß dieser neue Verbrechertypus ... unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewußt zu werden“ (Arendt). Diese Sicht wurde in den anderen bekannten Auseinandersetzung mit Eichmann, wie Harry Mulischs Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß (1961) oder Günther Anders’ Wir Eichmann-Söhne. Ein offener Brief an Klaus Eichmann (1964), durchgehalten.
Die Studie Yaacov Lozowicks, des Archivdirektors von Yad Vashem, setzt sich mit dieser Sicht, die „zu einem permanenten Bestandteil des westlichen Bewusstseins, zu einem Kernstück der modernen Kultur wurde“ (340), auseinander und möchte den Gegenbeweis antreten: „Eichmann und seine Kollegen wußten sehr genau, was sie taten, sie taten es mit ganzem Herzen und bereuten später allenfalls, erwischt worden zu sein“ (341).
Lozowick wendet sich zunächst der ideologischen Grundhaltung zu. Die Abteilung II 112 im SD war für die Informationsbeschaffung über den „weltanschaulichen Gegner“ Judentum im Reich zuständig. Eichmann und seine Kollegen kundschafteten Gestalt und Aktivität des „Weltjudentums“ in Deutschland aus, d.h. sie beobachteten und überwachten jüdische Organisationen wie die Organisation Reconstruction Training, die Agudad Yisrael oder die zionistische Haganah, erstellten Berichte über sie und unterrichteten und schulten sich über den vermeintlichen Gegner in Seminaren (40ff.). Dabei sprachen sie „als Antisemiten und betrachteten die Welt durch ihre antisemitische Brille“ (52). Je mehr Eichmann „über das Judentum erfuhr, um so mehr war er davon überzeugt“ (49), dass Deutschland und die Welt von einer jüdischen Weltverschwörung umspannt und bedroht sei. Eichmann ist der beste Beweis dafür, dass interkulturelle Begegnung, dass empirische Fakten an einem ideologischen Schema nichts ändern. Als er im Oktober 1937 mit Kollege Hagen nach Palästina fuhr, schrieb er nach seiner Rückkehr über die dort siedelnden Juden wie heute Deutsche über Israel: die Juden lebten als Parasiten, seien unfähig, einen richtigen Staat zu bilden und beuteten v.a. durch ihre Übermacht an Banken die autochtone Bevölkerung aus (43).
Gegen Ende der 30er Jahre verließ die Abteilung mehr und mehr die theoretische Auseinandersetzung mit dem Judentum, was „aber nicht durch Desinteresse“, sondern „durch Arbeitsüberlastung ... verursacht wurde“ (55). Fragen der Praxis wurden drängender. Lozowick unterscheidet nun zwischen den Bürokraten der Vernichtung, die innerhalb und denen, die außerhalb des Kernreichs die Endlösung durchführten.
Jene im Reich befassten sich v.a. mit der logistischen Seite, d.h. mit der Organisation und Planung der Züge, aber auch mit Fragen der sog. „Schutzhaft“ und der Definition, wer zu deportieren ist. Damit waren sie nicht so weit vom Schuss, wie man meinen mag. Es gab viele Einzelfälle zu entscheiden. Nicht nur wenn sie als überzeugte Antisemiten Wutausbrüche ob ‚der Juden’ bekamen, gerieten sie mit ihrer Arbeit ab und an ins Stocken. Bei der Behandlung der Deportation von Kindern stiegen unwillkürlich Gedanken an ihre eigenen auf; sie wollten nicht, dass ihre Frauen von ihrer Arbeit erführen; und sie wussten, dass „die Mitarbeiter des Referats ... im Falle einer Niederlage Deutschlands wohl Selbstmord begehen“ müssten. Aber sie ermahnten sich, „hart“ zu sein oder noch zu werden (165f.). Die sprachliche Verschleierung („Sonderbehandlung“, „Endlösung“, „Umsiedlung“, „Arbeitseinsatz im Osten“ etc.), der gerne Bedeutung zugemessen wird (163), als hätten die, die sie benutzten und sogar selber ausgedacht hatten, durch sie nicht mehr gewusst, was sich dahinter verbirgt, „vermochte nicht vollständig vor den emotionalen Folgen [des] Tuns abzuschirmen.“ Sie wussten, „daß die nicht-nationalsozialistische Welt [es] als Verbrechen bewertete“ (167). Laut Arendts Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schaffe die totalitäre Bewegung eine „fiktive Welt“, bilden die wie Zwiebelschalen umeinander angeordneten Teile der Bewegung einen Wall, um vor der Realität zu schützen, wie auch mit ihr zu kommunizieren (Elemente, 575ff.). Bei den Eichmännern außerhalb des Reichs fiel dieser Schutzwall aber weg. Bereits bei den Berliner Beamten ist die „Annahme ..., sie seien derart in die nationalsozialistische Welt eingetaucht, daß sie nicht mehr fähig waren, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden“, falsch. Die Beamten und Funktionäre, „die sich im Ausland aufhielten ..., mussten in einer Umgebung agieren, in der man keineswegs gemäß den moralischen Kriterien des Nationalsozialismus lebte“ (178f.). Aber auch sie erfüllten ihre Aufgabe. Sie waren Pioniere auf ihrem Gebiet, keine Bürokraten, die sich vollziehend in ein vorgegebenes Ressort einarbeiteten. Sie betraten Neuland, sie mussten mit bis dahin unbekannten Schwierigkeiten fertig werden und „sie bewiesen Initiative, wenn es darum ging, Hindernisse aus dem Weg zu räumen“ (288). Sie führten anti-jüdische Verordnungen ohne ausdrückliche Anweisung ein (184f.), verfassten Memoranden bezüglich weiteren Vorgehens (282f.) und deportierten Juden nach eigener Vorgehensweise und eigenem Ermessen (203).