Christoph Hesse
Wolfgang Pohrt: FAQ
Aus dem Reich der Toten
In seinem Essay „Nutzlose Welt“, 1974 im Kursbuch erschienen, hatte Wolfgang Pohrt die Ohnmacht im Spätkapitalismus beschrieben. Bis in die neunziger Jahre hinein tat er eigentlich nicht viel anderes, wobei er genau wußte, wie nutzlos selbst diese Tätigkeit letzten Endes war. Auch deshalb gab er den Beruf des Polemikers bald auf. Glaubte man wenigstens. Gerade hat er – zu seiner eigenen Überraschung – ein neues Buch geschrieben. Warum? „Das ergab sich eben so.“ (Seite 7)
Wie es sich ergab, ist schnell erklärt: Am 30. September 2003 tauchte Pohrt plötzlich neben Henryk Broder auf einem Podium in Berlin auf, um über das verflixte 13. Jahr im vereinigten Deutschland zu debattieren. Dafür sei Pohrt genau der Richtige, dachte man. Er selbst sah das anders und zeigte sich einigermaßen gelangweilt von der „Veranstaltung, bei welcher jeder jedem anderen und obendrein auch noch sich selbst ganz entsetzlich zum Hals herausgehangen hat.“ (19) Das Thema interessierte ihn ebensowenig wie die Leute, die es unter Berufung auf seine früheren Texte seit 13 Jahren auf die Tagesordnung setzen. Hermann Gremliza, der Pohrts Artikel seit Anfang der achtziger Jahre in Konkret drucken ließ, druckte auch diesen Vortrag (siehe Heft 11/2003) – zusammen mit einer Replik, in welcher er Pohrt auf freundliche Weise Realitätsverlust bescheinigte. Einen „Vatermord am Guru“ nannte Uli Krug die Veranstaltung (siehe Bahamas Nr. 43), was der Vater allerdings gelassen nimmt: „In der vaterlosen Gesellschaft gibt es keinen Vatermord. Wir leben im Zeitalter der alleinerziehenden Mütter, der Lebensabschnittspartnerschaften und der Singles – Papa ist schon lange tot und deshalb froh, wenn er mal den Kinderwagen schieben darf. Da gibt es nichts mehr zu ermorden.“ (19)
Ist Pohrt also doch noch immer der alte Fuchs, der es besser weiß, oder nur mehr der Alte, der die Welt vorausschauend mit den Augen eines Toten betrachtet, dem alles, was mit Freiheit und Emanzipation auch nur im Traum zu tun hat, unweigerlich wie ein Jugendstreich erscheint?
Keine Ahnung. In FAQ stellt Pohrt die Fragen selbst, die er in gewohnt lakonischer Manier beantwortet. Das ergibt eine eigenartige Textsorte, wie man sie bereits vor einigen Jahren in Konkret in der Rubrik „Pohrt antwortet“ kennenlernen konnte. Zur Erinnerung, und um das Bändchen vollzumachen, sind diese „Gespräche“ hier ebenfalls nachgedruckt. Außerdem finden sich drei bislang unveröffentlichte Gelegenheitsarbeiten, die vor allem Kenner und Sammler seiner Werke erfreuen dürften.
Im Vorwort heißt es: „Trotz langer publizistischer Abstinenz hatten meine alten Feinde mich nicht vergessen, und ich hatte mir obendrein neue gemacht.“ (7) Die Frequently Asked Questions, die an die Reaktionen auf den Berliner Podiumsbeitrag anschließen, dürften die Liste der Feinde noch um einige Grüppchen und Zirkel erweitern: mindestens um den „Winzigverein“ (30), bei dem Pohrt „dieses komische Antideutschtum“ (8) diagnostiziert, als dessen Vordenker er bis heute gehandelt wird. Jedenfalls bleibt er der Strategie treu, die Woody Allen einmal so formulierte, daß er keinem Club angehören möchte, der einen wie ihn als Mitglied aufnimmt.
Mitglied wird man durch freien Entschluß, den man hinterher meistens bereut. Wie aber wird man Vordenker? „Das kann jedem passieren, aber nicht ohne eigene Schuld. Neben manchem Richtigen schreibt man auch manches weniger Richtige, und gerade das besitzt eine natürliche Affinität zur Programmatik.“ (27) Sogar das Richtige, das nicht für die Ewigkeit, sondern zum richtigen Zeitpunkt geschrieben wurde, nutzt sich mitunter ab und wird fragwürdig. Das bringt den Vordenker in die Bredouille, daß er den Nachdenkern von Zeit zu Zeit davonläuft und der Ruhmestitel ihm bald zum Ärgernis wird. Aber natürlich wiese Pohrt den Titel nicht von sich, wenn dieser ihm nicht zugleich auch schmeicheln würde. Genauso wie Gremliza gern ein einflußreicher Zeitungszar geworden wäre, wie Pohrt einmal schrieb, so gern wäre er selbst der Vater geworden, dessen Verschwinden er heute bedauert.
Geblieben ist er auf jeden Fall einer der wenigen Autoren, den man auch dann mit Gewinn und Vergnügen liest, wenn man ihm für das, was er da schreibt, manchmal am liebsten an die Gurgel ginge. Ein guter Kriminalroman, meinte Raymond Chandler, ist einer, den man begierig zu Ende liest, auch wenn man des Rätsels Lösung längst kennt. Man könnte dabei immer noch etwas Neues lernen. Von den emotional verfrorenen Kreaturen, die Pohrt zufolge heute die zivilisierte Welt bevölkern, ist das freilich nicht zu erwarten. Die Geschichte ist zu Ende. Zwar soll man „die Hoffnung nie verlieren, andererseits ist es bekömmlicher, wenn man keine hat.“ (110)
Das Ende der Geschichte ist, nebenbei gesagt, auch der eigentliche clue, von dem aus die persönliche Theoriegeschichte Wolfgang Pohrts begriffen werden kann (falls das noch jemanden ernsthaft interessiert). Die Ohnmacht im Spätkapitalismus ist seit dreißig Jahren Programm, und daraus erklärt sich alles, was manchen heute vielleicht als merkwürdige Wendung oder als Anzeichen von Senilität erscheinen mag. Mit der Beschreibung der Welt als Altersheim, in dem allerlei bestialischer Unfug getrieben wird, von dem aber vor allem noch tödliche Langeweile, längst keine Gefahr mehr ausgeht, ist Pohrt beim Thema seiner Jugendschriften angekommen, die bereits vom apathischen Verhalten seiner Zeitgenossen und von kollektivem Selbstmord handelten.
Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht der letzte Beitrag des Bandes, „Irgendwo im Nirgendwo“, der sich mit Fragen der Baukunst befaßt. Seit den Pyramiden werden Behausungen für Leichname gebaut, mögen diese auch physisch noch lange zu leben haben – so in etwa kann man das Argument vorsichtig zusammenfassen. Der Text zeigt einen Pohrt in Hochform, das heißt, man sollte daraus nicht unbedacht vor fremdem Publikum zitieren. Selten wurde einem der Marxsche Gedanke, daß unterm Kapitalverhältnis das Tote über das Lebendige herrscht, so plastisch vor Augen geführt wie hier am Beispiel der Architektur. Die versteinerten Verhältnisse – das ist der alternative Wohnungsbau, der die Menschen schon zu Lebzeiten in Grabkammern verstaut. Der lebendige Leib wird der anorganischen Welt anverwandelt, wie es bei Benjamin heißt. Am Lebenden werden die Rechte der Leiche wahrgenommen. Das Zeitalter der Zombies hat begonnen.
Wolfgang Pohrt: FAQ, Berlin 2004 (Edition Tiamat), 176 Seiten, € 14