Hendrik Wallat
Wiebrecht Ries: Nietzsche/Kafka. Zur ästhetischen Wahrnehmung der Moderne/ ders.: Nietzsches Werke. Die großen Texte im Überblick
Nietzsche ist tot. Die Philologie hat ihn getötet. Welch Ironie des Schicksals! Bis auf Ausnahmen ist es um Nietzsche ruhig geworden. An die Stelle von großen Versuchen über den großen Versucher ist die philologische Akribie getreten, die, wie Nietzsche selbst wusste, entmythologisiert und tötet – bei aller Gelehrsamkeit zumeist durch Langeweile. Nietzsche hat bis heute selten die Leser bekommen, die er verdient hätte. Das Letzte, was er wollte, waren „’Gläubige’“ (KSA 6, 365). Wie der andere große Unverstandene hatte sich der philo-sophische Maskenspieler „Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen“ (MEW 23, 12), gewünscht. Andererseits ahnte er schon – „ein Wort von mir treibt alle schlechten Instinkte ins Gesicht“ (KSA 6, 303) – dass er missverstanden werden würde: „lernt mich gut lesen!“ (KSA 3, 17). Nietzsches Einschätzung des ‚Zarathustra’ steht pars pro toto: „Was zum Beispiel meinen ‚Zarathustra’ anbetrifft, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann ein-mal tief entzückt hat“ (KSA 5, 255). Man braucht ein rechtes „Ohr“ (KSA 6, 300), um der polyphonen unendlichen Melodie seiner Gedanken(hinter)welt folgen zu können, ohne sich voreilig im Labyrinth des vorder-, ab- und hintergründigen Perspektivismus zu verlieren. Einer der wenigen Nietzscheforscher, die dieses Gehör haben, ist Wiebrecht Ries, der nicht nur der Intensität und tragischen Ironie der Sprache und des Denkens Nietzsches standhält, sondern durch seinen eigenen Sprachstil selbst etwas vom Geiste Nietzsches zu vermitteln vermag.