Fabian Kettner
Paul Martin Neurath: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald
Situation ohne Ziel
Über die Neuauflage von Paul M. Neuraths früher Studie über die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald
„Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen, trat ein sonderbarer Bürgerkriegszustand ein“, so beobachtete Paul Martin Neurath. „Die eine Seite kämpfte wie rasend, hinter sich die mächtige Unterstützung der Regierung, die ihr Handlungsfreiheit gab und jeden Gesetzesbruch zu legalisieren versprach. Die andere Seite fügte sich ohne irgendeinen Versuch zum physischen Widerstand“ (21). In diesen einleitenden Sätzen steckt bereits die gesamte Fehleinschätzung des nationalsozialistischen Deutschland und Österreich: Es gab keinen Bürgerkrieg, sondern die Einwohner Deutschlands formierten sich zum Volk, indem es seine Volksfeinde identifizierte und internierte. Die Seite, die wie rasend kämpfte, war nicht die Gruppe der Nazis, die hinter sich die Regierung hatte, sondern die von den Deutschen gewollte Führung. Auch fügte sich nicht die andere Seite, auch nicht Neurath. Dieser floh vor der Gestapo, als sie am 13.03.1938, nur zwei Tage, nachdem Österreich heim ins Reich gekommen war, ihn zu verhaften kam. Dass es nicht das Volk einerseits und die Nazis andererseits gab, das hätte ihm aufgehen können bei seiner Verhaftung kurz vor der tschechischen Grenze, denn die hätte die Gestapo ohne weitreichende Hilfe, ohne die alltägliche Aufmerksamkeit der bäuerlichen Bevölkerung nicht geschafft.
Diese klassischen marxistischen Fehleinschätzungen lassen sich vielleicht aus der politischen Sozialisation erklären. Neurath, geboren am 12.09.1911, war der Sohn des bekannten Otto Neurath, der nicht nur zum Diskussionszirkel des Neopositivismus, dem Wiener Kreis, gehörte, sondern der in der bayerischen Räterepublik ein sog. Experte für Sozialisierungsfragen gewesen war. Paul M. Neurath wuchs im „Roten Wien“ auf und war Mitglied bei den Roten Falken. Gut möglich, dass er hieraus seine Überzeugung zog, „das ganze deutsche Volk soll durch die Angst vor dem Konzentrationslager in Schach gehalten werden“ (25). „Die ganze deutsche Nation“ dachte eben nicht „mit dem gleichen Grauen und der gleichen Angst“ wie der Häftling ans KZ (146), sondern eher mit einer Mischung aus wohligem Grausen und Genugtuung.
Neurath wurde am 01.04.1938 nach Dachau gebracht und am 24.09.1938 nach Buchenwald. Kurz vor Kriegsausbruch, am 27.05.1939, wurde er entlassen, ging ca. drei Wochen später nach Schweden und noch zwei Jahre später in die USA. Dort studierte er Soziologie und reichte im Sommer 1943 eine Dissertation mit dem Titel Social Life in the German Concentration Camps Dachau and Buchenwald ein, die nun erstmals vollständig auf Deutsch veröffentlicht wurde.
In Bezug auf Eugen Kogons Bericht über das KZ Buchenwald, Der SS-Staat, stellte Wolfgang Pohrt fest, dass man solche Bücher mit einer „Mischung aus Faszination und Langeweile“ lese. Dann weiß man eher, wie ein KZ funktioniert, als dass man begreifen könnte, was da passierte. Auch wenn Neurath meint, dass man sein Buch „gar nicht einen soziologischen Bericht nennen“ könne, weil es vielmehr „einfach ein Bericht über gewisse Erscheinungen“ sei, „die jemand mit soziologischem Interesse besser sieht und besser berichtet als jemand ohne das“ (427) so gibt auch bei ihm die angestrebte Form sozialwissenschaftlicher Objektivität das Ergebnis vor.
Neurath gibt einen ausführlichen Bericht über den Aufbau des Lagers, die verschiedenen Häftlingsgruppen, deren Verhältnis zueinander, die Wachen, die Regeln, die Strafen, die Arbeiten usf., durchsetzt mit konkreten Szenen. Dieses Gefühl der Langeweile, für das man sich angesichts des Leids des Berichtenden schämen mag, stimmt leider. Neurath wusste, dass entlassene Häftlinge „meist vollkommen außerstande sind, die Monotonie des Lagers in Worte zu fassen“ (171). „Der Druck der Verhältnisse besteht nicht so sehr aus den tatsächlichen Misshandlungen, die man ertragen muss [...], sondern aus ihrer Allgegenwart“ (172). Und diese Allgegenwart macht auch den Alltag in einem KZ alltäglich und trivial. Die Häftlinge werden auf „weniger spektakuläre Weise umgebracht.“ Das Lager „gleicht weniger einem wüsten Mörder, der Amok läuft, als einer furchtbaren Maschine, die ihre Opfer langsam, aber gnadenlos zermalmt“ (78). Die Misshandlung der Häftlinge war unpersönlich und „standardisiert“ (31) „Alltagsroutine“ (27) für die Wachen, die oft aus Langeweile schikanierten (117).
Die „Zielvorstellung der Lagerleitung“ bestand darin, „den Menschen in einen völlig atomisierten Haufen von Nummern hineinzuwerfen, aus dem er völlig zufällig für seine Sklavenarbeit ausgewählt wird“ (223). Im KZ sollten die Häftlinge gebrochen werden; zum einen damit ihr Oppositionsgeist gebrochen wurde, zum anderen, damit das Lager wie eine „gut geölte Maschine“ (195) funktioniere. Die „ruhige und reibungslos ablaufende Routine“ (231) zeigt aber Spezifika desjenigen Volksgeistes, der sich da verwirklichte. In Dachau, wo die „blitzblanke Reinlichkeit einer Puppenstube“ (32) herrschte, galt es, gerade den Juden „deutsche Ordnung beizubringen“ (330), indem ein „Ordnungssinn um des Ordnungssinnes willen“ (338) exekutiert wurde.
Sowenig in der Ordentlichkeit reine Rationalität, geschweige denn Vernunft herrschte, sondern ihr deutscher Hohn auf sie, so sehr wurde diese in der Binnenlogik des Lagers außer Kraft gesetzt. Macht das Lager „nach außen ... den Eindruck einer reibungslos von oben nach unten durchorganisierten Hölle, in der jeder Schritt, den man tut, jede Folter, die man zu erleiden hat, berechnet ist“ (30), so musste der Häftling lernen, dass er keine Möglichkeit hatte, „sein eigenes Schicksal durch vernünftiges Verhalten zu beeinflussen“ (133). Es herrschte „vollkommene Unsicherheit“ (28), denn „die gewöhnliche Logik gilt im Lager nicht.“ Geprügelt wurde „um des Prügelns willen“ (34).
Diese „verdrehte Logik“, diese „mangelnde Logik“ (36) wodurch das Leben im Lager „nur noch ein physisches Dahinvegetieren“ war, „ohne Erinnerungen an die Vergangenheit, ohne Sinn in der Gegenwart und ohne Ziele in der Zukunft“ (199), führte dazu, dass die Häftlinge „sich wie Nummern verhalten, denen man jede Persönlichkeit und jeden Gedanken an Widerstand ausgetrieben hat“ (363).
PAUL MARTIN NEURATH: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald
Hgg.v. Christian Fleck und Nico Stehr. Mit einem Nachwort von Christian Fleck, Albert Müller und Nico Stehr. Aus dem Englischen übersetzt von Hella Beister.
Suhrkamp, Frankfurt/M 2004
ca. 460 Seiten, €
ISBN 3-518-58397-2