Olaf Kistenmacher
Nicolas Berg (Hg.): Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen
Der Ausdruck „struktureller Antisemitismus“ provoziert
wiederkehrend zwei Einwände: erstens ob es berechtigt ist, bereits von
einem „strukturellen Antisemitismus“ zu sprechen, wenn sich die
Aussagen und Handlungen nicht gegen Jüdinnen und Juden richten? Und
zweitens: Inwiefern ergibt sich die explizite Judenfeindschaft aus
einem „strukturellen“ Antisemitismus? Dass, um ein konkretes Beispiel
zu nennen, 1923 Vertreterinnen und Vertreter der KPD öffentlich von
einem „jüdischen Finanzkapital“ sprachen – der Vorsitzende Heinrich
Brandler benutzte sogar den Ausdruck „das verjudete Finanzkapital“ –,
ergab sich nicht allein aus strukturellen Übereinstimmungen ihrer
Denkweisen mit dem Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese
Redeweise lässt sich auch nicht nur auf Anpassungsbemühungen der KPD
an den gesamtgesellschaftlichen Nationalismus und die weitverbreitete
Judenfeindschaft zurückführen. Die Identifikation von „Juden“ mit
„Kapital“ hat, wie der lesenswerte, von Nicolas Berg herausgegebene
Sammelband Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende
Semantiken des Jüdischen zeigt, ganz andere Wurzeln.