Olaf Kistenmacher
Martin Ulmer: Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933
Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag
Aus zwei Gründen ist die lokalhistorische Studie von Martin Ulmer zum Antisemitismus in Stuttgart auch über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus von Interesse. Zum einen zeigt die Untersuchung Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933. Studien zum öffentlichen Diskurs und Alltag am Beispiel des als „liberal“ geltenden „Musterländles“ die Kontinuität der modernen Judenfeindschaft von 1870/71 bis 1933. Zum Zweiten analysiert Ulmer nicht nur die manifest antisemitischen Äußerungen und Handlungen, sondern auch die „unbewussten bzw. bewusst codierten Formen des Antisemitismus“ und rekonstruiert, wie z.B. die Hetze gegen das „Finanzkapital“ oder Warenhäuser mit dem antisemitischen Diskurs verwoben waren. Solche versteckten Formen der Judenfeindschaft, von der Kritischen Theorie als „Krypto-Antisemitismus“ bezeichnet und von anderen „Kommunikationslatenz“ genannt, werden in der Antisemitismusforschung oft als eine Neuerung nach der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in Reaktion auf die Shoah, verstanden – obwohl Theodor W. Adorno das Phänomen „versteckter Anspielungen“ in faschistischen Reden 1946 im Rückblick analysierte. Indem sich Ulmer mit dieser Dimension des antisemitischen Diskurses beschäftigt, trägt er auch der Beobachtung Adornos Rechnung, beim Antisemitismus handle es sich um das „Gerücht über die Juden“. Dass sich Antisemitismus in Stuttgart 1871–1933 auf dieses Unbestimmte und zum Teil Unbestimmbare der modernen Judenfeindschaft einlässt, macht den reizvollen, aber auch den heiklen Punkt der Untersuchung aus.