Ingo Elbe
Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers
Leo Koflers Marxismus
Zwischen Ideologie und Kritik
"Zur Kritik bürgerlicher Freiheit" (VSA, Hamburg 2000) nennt sich ein von Christoph Jünke herausgegebener Band mit Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln des von 1972 bis 1991 an der RUB tätigen und 1995 verstorbenen Marxisten Leo Kofler.
Die Beiträge erstrecken sich über den Zeitraum von 1951 - 1989 und bieten einen nahezu repräsentativen Überblick über die Themen und Grundzüge des Koflerschen Denkens.
Geschichtsphilosophie und Kritik derselben
Der ’Einzelgänger’ Kofler darf in vielerlei Hinsicht als klassischer Vertreter des sog. westlichen Marxismus gelten: Er formuliert Ende der 40er/ Anfang der 50er Jahre, teils noch während seiner Tätigkeit als Professor in Halle, eine offensive Kritik am Stalinismus, nach seiner Flucht in die Bundesrepublik auch am ethischen Sozialismus der westdeutschen Sozialdemokratie. Dabei verfällt gerade der geschichtsphilosophische Objektivismus und Determinismus, die szientistisch verbrämte Rede von den ’objektiven Entwicklungsgesetzen’ des geschichtlichen Fortschritts, die vom Marxismus der 2. und 3. Internationale als Ausweis der Wissenschaftlichkeit des ’wissenschaftlichen Sozialismus’ betrachtet wird, der Kritik Koflers. In dessen praxisphilosophischer Deutung des Marxschen Werks stehen dagegen die Kritik der verselbständigten Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung, die Dechiffrierung der zur ’zweiten Natur’ erstarrten Strukturen der antagonistischen Gesellschaft als historisch-spezifische Formen sozialer Praxis und die Ideologiekritik des verdinglichten Bewusstseins im Mittelpunkt. Gegen die fetischistische Auffassung gesellschaftlicher Objektivität im stalinistischen Lehrgebäude betont Kofler den spezifischen, bewusstseinsvermittelten Charakter des sozialen Seins, die radikale Differenz zwischen natur- und sozialwissenschaftlichem Gegenstandsbereich. Dabei verbleibt er aber weitgehend auf einer abstrakt-methodologischen Ebene. Marx’ Ökonomiekritik gilt ihm zwar als Vorbild, wird aber nur selten Gegenstand seiner Betrachtungen oder gar konkreter Ausgangspunkt seiner Gegenwartsdiagnosen. Auch sein Verhältnis zur Geschichtsmetaphysik des traditionellen Marxismus bleibt letztlich ambivalent. Oft genug fällt Kofler, insbesondere wenn er Marx’ Geschichtsauffassung in bündigen Formeln zu fassen sucht, in die Konzeption eines teleologischen Fortschrittsgeschehens zurück ("...Geschichte als eine Stufenfolge von immer höheren Stufen der Freiheit und Selbstverwirklichung des Menschen", S. 78) und einige Formulierungen überschreiten vollends die Grenze zur Unterstellung einer welthistorischen List der Vernunft (vgl. S. 98 u. 200f.). In kaum zu überbietender Naivität wird dann Geschichte wieder als - wenn auch im ’Zickzack’ verlaufendes - Heilsgeschehen gedeutet, wird die nüchterne Marxsche Analyse des Kapitalismus wieder zur theoretischen Garantie menschlicher Befreiung umgebogen.
Eliten und Gegen-Eliten
Koflers praxisphilosophischer Ansatz nimmt nicht nur zentrale Argumentationsfiguren des westlichen Marxismus auf, es finden sich bei ihm auch Elemente einer Theoretisierung desselben - gemäß seiner Forderung, kritische Gesellschaftstheorie müsse nicht nur die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise, sondern auch sich selbst als in dieser situiert denken. Dies geschieht v.a. im Rahmen seiner Reflexionen zur "progressiven Intelligenz" bzw. "Elite". Diese tritt im Zeitalter der "bürgerlichen Dekadenz", d.h. des Verfalls des bürgerlichen Humanismus bei formell reicher Entfaltung von Wissenschaft, Kulturproduktion und -genuß, einerseits das Erbe dieses Humanismus an, den sie sozialistisch umartikuliert, von seinen bürgerlichen Aporien (der Konstellation Freiheit-Privateigentum) befreit und zu verwirklichen trachtet, andererseits ist sie das Produkt der Krise der Arbeiterbewegung und des Zerfalls ihres sozialistischen "Volkstribunentums" seit Anfang der 30er Jahre. Die progressive Elite besteht demnach aus kritischen Individuen in - wie man heute sagen würde - zivilgesellschaftlichen Institutionen (genannt werden Schulen, Kirchen, Universitäten, Gewerkschaften), die aufgrund ihrer Opposition gegen Stalinismus und angepasste Sozialdemokratie zugleich ein "asketisches Pariadasein" in politischer wie publizistischer Isolierung und Ohnmacht fristen. Theoretisch ist diese Gruppe ausgezeichnet durch einen "ironisch gebrochenen Utopismus", die Tendenz zu einer Stimmung der Verzweiflung aufgrund ihres zwangsweisen Verharrens in Kontemplativität und Negation sowie einen demokratisch ausgerichteten Elitebegriff (im Sinne der klassischen Avantgarde-Theorien).
Doch auch die ’konservative Elite’, ihre Ideologen und Ideologien werden im Rahmen eines erweiterten Staatsbegriffs einer Analyse unterzogen. Kofler konstatiert dabei eine verstärkte Relevanz kultureller Hegemonie zur Integration entwickelter kapitalistischer Gesellschaften: er nennt diesen Prozess "Vergeistigung der Herrschaft". Aufgabe der konservativen Elite ist es dabei u.a. "die Prinzipien der Herrschenden zu Prinzipien des ganzen Volkes" zu machen, eine Herrschaft durch Konsens und damit die freiwillige Übernahme von Unfreiheit seitens der Subalternen zu organisieren. Gewisse Parallelen zu Antonio Gramscis kritischer Theorie der Zivilgesellschaft liegen auf der Hand, ohne dass Kofler bereits in den 50er Jahren, in denen er diese Gedanken ausarbeitet, von Gramsci Notiz genommen hätte.
Spätkapitalismus und Mythos Proletariat
In diesen Zusammenhang fällt auch Koflers heftige Polemik gegen die Vertreter der Frankfurter Schule. Er wendet sich gegen deren Diagnosen einer ’eindimensionalen’ (Marcuse) oder ’totalen’ (Adorno) Vergesellschaftung im Spätkapitalismus, bezeichnenderweise ohne ökonomietheoretische Fehleinschätzungen wie Pollocks hinsichtlich der Theoriebildung Horkheimers und Adornos äußerst einflussreiches ’Staatskapitalismus’-Theorem oder Adornos These von der ’Liquidation der Ökonomie’ zu thematisieren. Obwohl Kofler ebenfalls von der "extrem verdinglichten und integrierten Gestalt" des Proletariats spricht, muss gemäß seiner letztlich doch betont ’optimistischen’ Perspektive die Kritik nicht v.a. der Arbeiterklasse, sondern den Organisationen der Arbeiterbewegung gelten. Während diese ihren Frieden mit der entfremdeten Ordnung gemacht hätten, wird für jene ein bloßes Mitmachen konstatiert, das aber nicht mit ’Verbürgerlichung’ verwechselt werden dürfe. Aufgabe kritischer Intellektueller sei es nicht, die Unmöglichkeit umwälzender Praxis im vermeintlich widerspruchslos integrierten Kapitalismus zu verkünden, sondern "die aus der Tradition der Arbeiterbewegung herausgewachsenen ... Organisationen einer ausdauernden Kritik zu unterziehen und sie ... zu zwingen, die bei den Massen in nuce bestehende kritische Stimmung zu aktualisieren ..." (S. 186). Anders als bei den Vertretern der Kritischen Theorie, haben die Erfahrungen des NS das Vertrauen in das ’enorme Bewusstsein’ (Marx) der Arbeiterklasse bei Kofler nicht erschüttern können. Zu Recht kritisiert dieser die Tendenz v.a. Horkheimers und Adornos zur Reflexion der Geschehnisse der Nazi-Barbarei im Rahmen einer negativen Geschichtsphilosophie, die den historischen Prozess der abendländischen Entwicklung in eine Verfallsgeschichte substantieller Vernunft umdeutet und einzig das in abstrakter Negation gewonnene ’Ganz Andere’ noch als Emanzipationsperspektive gelten lassen will. Zu Unrecht reduziert Kofler die Reflexionen v.a. des späten Adorno auf diese Tendenz, zu Unrecht auch blendet er vollständig die keineswegs in einer abstrakten Geschichtsphilosophie untergehenden Überlegungen der Frankfurter zum autoritären Charakter, zu den Elementen des Antisemitismus oder zur Aufarbeitung der Vergangenheit in der BRD aus. Kofler begreift den NS ausschließlich als faschistischen Kampf gegen die Arbeiterbewegung, der Antisemitismus und der Holocaust haben als spezifische Phänomene keinen Platz im kategorialen Rahmen seines Werks. Das hat natürlich - gerade im Zusammenhang mit seinen traditionalistischen Mythen vom Proletariat als Klasse im und zugleich wesenhaft gegen den Kapitalismus - problematische Folgen für seine Einschätzung der ’Massen’. Auch hier schwankt Kofler zwischen einer Ideologiekritik des proletarischen Alltagsverstands und einer durch nichts begründeten Unterstellung eines ’latenten’ revolutionären Klassenbewusstseins.
Anthropologie und Freiheit
Die Textauswahl berücksichtigt noch weitere klassische Sujets des Koflerschen Marxismus. So z.B. das Konzept einer marxistischen Anthropologie als Theorie der "unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit", in deren Rahmen Kofler eine Kritik sowohl an den modernen Biologismen als auch an den soziologistischen Verleugnungen anthropologischer Tatbestände formuliert. Erwähnenswert sind dabei auch seine Auseinandersetzung mit den Positionen eines orthodoxen Freudo-Marxismus oder seine Variante des Marcuseschen Theorems der repressiven Entsublimierung. Dem starken Anspruch einer Fundierung der normativen Grundlagen kritischer Gesellschaftstheorie, den Kofler mit seiner Anthropologie verbindet, muss allerdings mit Skepsis begegnet werden. Zu oft verfängt er sich in Widersprüche und naturalistische Fehlschlüsse: Zwar gelten ihm anthropologische Bestimmungen zu Recht nur als formale Ermöglichungsbedingungen menschlicher Geschichtlichkeit, dennoch wird die Tatsache, dass sich menschliches Handeln nicht instinktgeleitet, sondern bewusstseinsvermittelt und in sozialen Zusammenhängen vollzieht, oft umstandslos mit normativen Aussagen über den Menschen als an sich freies Wesen konfundiert. Die biologische Nicht-Festgelegtheit auf bestimmte Verhaltensformen, die primäre Sozialität usw. werden dann zum "originären Wesen des nichtentfremdeten ... Menschen" (S. 186, Herv. v. mir, I.E.) verklärt.
Die vorliegenden Aufsätze verdeutlichen nicht zuletzt eine Grundtendenz im Denken Koflers: die Kritik der "Abgeschmacktheit, die freie Konkurrenz als die letzte Entwicklung der menschlichen Freiheit zu betrachten" (Marx) als "Nihilismus" bzw. "Antihumanismus". Er erinnert radikale Kapitalismuskritik schließlich daran, dass "die soziale Frage ... nicht nur eine Magenfrage, sondern eine Menschenfrage in toto ist" (S. 115). Die strukturellen, anonymen Zwänge kapitalistischer Vergesellschaftung "ergreifen den ganzen Menschen". Eine kritische Theorie hat folglich die Aufgabe, die Erniedrigung des ganzen Menschen, konkret utopisch bezogen auf die realen Möglichkeiten umfassender Emanzipation, zum Thema zu machen. Dies und die Frage, inwieweit Kofler dabei den Ambivalenzen des westlich-marxistischen intellektuellen Lernprozesses (u.a. der ’verschwiegenen Orthodoxie’ in Sachen Kritik der politischen Ökonomie) und einigen beharrlichen Mythen der traditionellen Arbeiterbewegung verhaftet bleibt, könnte Gegenstand einer nachträglichen Auseinandersetzung mit seinem Werk sein.
(eine gekürzte Version erschien zuerst in "Z" Nr. 44/2000)