Fabian Kettner
Leni Yahil: Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden
"Todesverhältnisse in den Kulissen des Lebens"
Der Ausdruck "Shoah" ist der Bibel entliehen. "ha-Sho’ah" bedeutet "großes Unheil, Untergang" (888). Dieser Ausdruck ist ein nur ungefährer für das, was den Juden durch den Nationalsozialismus angetan wurde, aber angemessener als das in Deutschland gängige Wort "Holocaust" (das inzwischen zum "Holokaust" aufgenordet wurde), denn dies bedeutet "Brandopfer", unterschiebt also semantisch der Vernichtung der Juden einen Sinn in the long run.
Die bekannteste Gesamtdarstellung der Shoah ist - zu Recht - Raul Hilbergs "Die Vernichtung der europäischen Juden" von 1961, skandalös spät erst 1982 ins Deutsche übersetzt. Ihr Gegenstand wie der von Saul Friedländers ("Das Dritte Reich und die Juden") oder Peter Longerichs Werk ("Politik der Vernichtung") ist bekannt - oder zumindest könnte er es sein. Darum braucht es hier nicht zu gehen; was wann wo warum geschah, kann jede/r selber nachlesen. Leni Yahil, 1912 in Düsseldorf geboren und 1934 nach Palästina ausgewandert, emeritierte Professorin für moderne jüdische Geschichte in Haifa, versucht eine Darstellung der Judenvernichtung nicht aus technischer Perspektive, aus der der Täter, wie diese mit den Juden verfuhren und die Voraussetzungen für ihre Vernichtung schufen, sondern ihr ging es um die "Judenheit in ihrer sozialen, kulturellen und politischen Gestalt und das daraus resultierende Verhalten der Juden, ihre Reaktionen auf den Totalangriff und ihre Maßnahmen, ob erfolgreich oder nicht" (36) - aber ihr ging es nicht darum, "Geschichte von unten" zu schreiben, nicht um über die Opferperspektive Betroffenheit zu erzeugen. Yahil schildert die Reaktionen der Juden in Deutschland unter der sukzessiv radikalisierten antijüdischen Gesetzgebung und die Programme der Emigration, schließlich den "Überlebenskampf" unter militärischer Besatzung und SS-Herrschaft in fast ganz Europa. Hervorzuheben sind die Kapitel über die Organisation der Juden in den Gettos im Osten und über den bewaffneten Widerstand (von Israel Gutman). Dies fehlt in Hilbergs Darstellung ebensowie die drei abschließenden Kapitel über Voraussetzungen, Probleme, Möglichkeiten und Erfolge jüdischer und nicht-jüdischer Rettungsversuche.
Yahils "Ziel war es, die Shoah vor dem Hintergrund der allgemeinen politischen Entwicklung einer Weltkrise nie dagewesenen Ausmaßes darzustellen und mit der Geschichte der planmäßigen Vernichtung der jüdischen Gemeinden Europas zu verbinden" (37) - ohne die Shoah in einer allgemeineren Weltkrise aufgehen zu lassen (auch wenn sie immer wieder Hannah Arendts Begriff des "Totalitarismus" unreflektiert gebraucht), denn die Shoah war und ist diese Krise. Yahil weiß, dass Antisemitismus "ein gänzlich irrationales Phänomen" ist, "das folglich keiner vernünftigen Erklärung oder Richtigstellung zugänglich" ist (67). "Der Jude" war im Nationalsozialismus der "Gegentypus", "die Antithese schlechthin" (68), sein "zentrales Moment." Dass er "als Grundlage" nicht nur "eines ganzen ideologischen Systems", sondern auch des Handelns diente und die Vernichtungsphantasie tatsächlich umgesetzt wird, das ist das Neue in der Geschichte des Antisemitismus und der Anschlag auf die Menschheit insgesamt. Dass die Deutschen sich jenseits herkömmlicher Rationalität stellten, irrationale Antriebe rationalisierten und eine "enzigartige Kombination von Fanatismus und eiskalter Berechnung" schufen (739), das versetzte die Juden in eine "aberwitzige und revolutionäre Situation" (816), "für die es keine Normen, Konventionen oder auch nur Präzedenzfälle gab" (742); das ließ die Spekulationen der Juden auf ihre Nützlichkeit für die Deutschen ins Leere laufen (284f., 628). Die Vernichtung der Juden war kein Zusatzproblem zum Krieg, dessen man sich auch entledigen musste, sondern "da der gesamte Krieg als Konfrontation zwischen zwei entgegengesetzten Ideologien aufgefaßt wurde, wobei die Juden als Personifizierung derjenigen galten, die die entzweiende Kraft in der menschlichen Gesellschaft darstellte, wurde ihre Vernichtung zum integralen Bestandteil der Kriegsführung" (345). Der Krieg zeigte den Deutschen "das Judenproblem in aller Klarheit" (589). Seiner Lösung wurde "aufgrund der mythisch-ideologischen Konzeption entscheidende Bedeutung für den Ausgang des Krieges beigemessen" (443). Yahil weist mal um mal, en passant, nach, dass es bei der Shoah, "eine[r] der am schwersten zu begreifenden Taten des Nationalsozialismus", die "alle materiellen und menschlichen Ressourcen des Reichs beanspruchte" (514), keine "Ökonomie der Endlösung" (Aly & Heim) gab. "Daß Menschen ohne Not und sogar im Widerspruch zu ihren eigenen Interessen Massenmord begingen und in vollem Bewußtsein den Wert menschlichen Lebens verneinten" (816), dass Antisemitismus nicht bloß "extravagante Zutat" (739) war, das konnte auch den Alliierten nicht aufgehen, womit Yahil einen großen Teil der Gleichgültigkeit gegenüber den Juden erklärt.
Yahils durchweg empfehlenswertes Buch ist ein Scheitern, nämlich nur ein "Versuch, das Unsagbare sagbar und das Unbegreifliche, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch zur Sprache zu bringen" (887). Mit Versen aus einem Gedicht von Jan Platek bezeichnet sie Auschwitz als "den Ort, wo / Der Mensch für den Menschen zu etwas wurde, / Was noch keine Sprache der Welt / definiert hat" (888). Über einen Teil der Menschheit wurde von einem anderen Teil der Menschheit verfügt, dass dieser nicht mehr leben dürfe. Die Deutschen machten praktisch wahr, dass Vernichtet-zu-werden zu einem Existenzial der Juden wurde.
Leni Yahil: Die Shoah. Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden. Aus dem Amerikanischen von H. Jochen Bußmann. München: Luchterhand, 1998, ca. 1050 Seiten, - 65,50