Fabian Kettner
Klaus Ahlheim / Bardo Heger: Die unbequeme Vergangenheit
Klaus Ahlheim & Bardo Heger. Die unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 2002 ca. 150 Seiten. € 15,00
Im Oktober 1998 hielt Martin Walser seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des dt. Buchhandels, in welchem er in Bezug auf den Umgang mit dem NS in der Pose des mutigen Einzelkämpfers über eine „Routine des Beschuldigens“, einen „grausamen Erinnerungsdienst“, die „Dauerrepräsentation unserer Schande“ und die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ klagte.
Aufmerksame Beobachter registrierten in der Folge einen Wandel im öffentlichen Gespräch. Klaus Ahlheim, Professor an der Uni Essen, wollte daraufhin mit MitarbeiterInnen untersuchen, wie groß „die Zustimmung der Intellektuellen zur inzwischen wohlfeilen Schlußstrich-Forderung“ ist und „mit welchen politischen Orientierungen, persönlichen Einstellungen, mit welchen schulischen und familialen Erfahrungen“ die „Schlußstrich-Mentalität“ verbunden ist. Im Wintersemester 2000/01 bekamen sie von knapp 2200 Studierenden aus den Fächern Pädagogik (& Umfeld), KoWi, Medizin, Bauingenieurwesen und WiWi einen relativ umfangreichen Fragebogen beantwortet, dessen Fragen geeignet sein sollten, den Habitus der Gruppe herauszufinden, „die in Zukunft großen Einfluß auf das öffentliche Meinungsklima ausüben wird.“ Das Ergebnis an sich ist bereits ernüchternd: Die Studierenden sind erschreckend schlecht über den NS informiert, und die Gruppe der Schlussstrich-Befürworter umfasst fast zwei Drittel der Befragten. Klassischer Antisemitismus spielt bei den Studierenden so gut wie keine Rolle; dafür gibt es einen wesentlich höheren Prozentsatz, der dem „sekundären Antisemitismus“, dem Judenhass nach und wegen Auschwitz, zugeneigt ist. Das Interessante an der Untersuchung aber sind nicht allein die ausgezählten Ergebnisse zu den einzelnen Frageblöcken zu Schlusstrich-Mentalität, deutsche Vergangenheit und Antisemitismus, Wissen und Aufklärung über den Holocaust, persönliche Lebenseinstellung und gesellschafliches Engagement sowie Bewertung der eigenen Erziehung und von Erziehung allgemein, sondern die Korrelationen zwischen ihnen. Ganz grob kann gesagt werden, dass Schlussstrich-Befürwortung, Ablehnung des Mahnmals zur Ermordung der Juden in Berlin sowie der Entschädigungszahlungen für ehemalige Zwangsarbeiter, sekundärer Antisemitismus, Furcht vor „Überfremdung“ durch Ausländer, der Wunsch nach der Selbstverständlichkeit eines stärkeren Nationalbewusstseins und nach einer wirtschaftlich wie militärisch bedeutenderen Rolle Deutschlands in der Welt, eine „hedonistisch-materialistische Orientierung“, gesellschaftspolitisches Desinteresse und ‚Genuss’ einer autoritären Erziehung und eine autoritäre Disposition untereinander hohe Korrelationen aufweisen und in einer Persönlichkeitsstruktur zusammenfließen. Die Begründungen, die Ahlheim et al. ausmachen, werden selten explizit. Will man die Stoßrichtung ihrer Kritik entwickeln, bleibt es nicht nur vage, sondern wird es auch heikel. Es seien nur einige Punkte angeführt. Was bspw. treibt Ahlheim, der sich gerne auf Adorno beruft, dazu, eine Orientierung nach „Erfolg haben“, „Abwechslung, Spannung, Abenteuer haben“ und „sehr gut verdienen, viel verdienen“ als „materialistisch-hedonistische“ zu bezeichnen? Wieso benennt er es nicht als „gut kapitalistisch“, also „antisozial“, „karrieristisch“ und „rücksichtslos“, sondern stattdessen mit einem von den Kulturkonservativen entlehnten Begriff, mit dem jene ‚Oberflächlichkeit’ und ‚geistigen Verfall’ beklagen, wenn die Menschen so wie das gesellschaftliche System werden, das sie propagieren, anstatt ‚Höheres’ anzustreben? „Auf nichts Angenehmes im Leben verzichten“ gehört ins Programm eines kritischen Kommunismus. Dass „zart einzig das Gröbste“ (Adorno) wäre, dass es mit dem Hedonismus im Kapitalismus nicht weit her ist, schon gar nicht in der Freizeitindustrie, an die Ahlheim et al. denken mögen, wenn sie die Essener Studierenden als Angehörige der „fun generation“ bezeichnen, das hätten sie bei Adorno, Marcuse und Kracauer nachlesen können. Da könne „es dann bisweilen eher hinderlich sein, wenn man den Dingen allzusehr ‚auf den Grund geht’.“ Man kann dies tun, man kann wunderbar gebildet und ein Faschist sein. Auf ‚Tiefe des Denkens’ haben die Intellektuellen jener schließlich ein Abo, das man ihnen gar nicht streitig machen sollte. Die Studie suggeriert einen Zusammenhang von korrektem Faktenwissen und moralisch angemessenem Umgang mit dem NS – die Verdrängungsleistungen deutscher Historiker sind offenkundig unbekannt. Da die meisten wenig über den NS wissen, seien die Klagen über eine angebliche Dauerberieselung mit diesem Thema im Schulunterricht unberechtigt – als wäre eine ausführliche Behandlung und ein lückenhaftes Wissen ein Widerspruch. Wenn verwundert festgestellt wird, dass viele „trotz“ Schlussstrich-Mentalität Guido Knopps Serie »Holokaust« gesehen haben, dann wird übersehen, dass man auch über Thematisierung verdecken und verdrängen kann. Was in »Holokaust« gezeigt wurde und wie, bleibt außen vor und es wird kein naheliegender negativer Rückschluss auf die Serie gezogen, wenn sie solche Zuschauer anzieht. „Nahezu einhellig“ werde die „Bekämpfung des Rechtsextremismus“ unterstützt – dabei bemerken die Verfasser selber, dass das, was heute noch als rechts gilt, früher kryptofaschistisch gewesen sein muss, so weit ist die Mitte nach Rechts gewandert. Kennzeichen eines Verfalls gesellschaftspolitischen Bewusstseins und linker Positionen bei den Studierenden sei der weniger häufig geäußerte Wunsch, „zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen“, sowie der „gravierende[.] Rückgang ökologischer Positionen“ – aber will zum einen nicht auch der Rechtsextreme (zumindest seinem Grundverständnis nach) die Gesellschaft verändern, und zwar radikal? Und sind zum anderen nicht „ökologische Positionen“ oft zutiefst autoritär und kompatibel mit faschistischen Gesellschaftsentwürfen? Die Ergebnisse werden so naiv, wie die Fragen formuliert waren. „Die wahre Kritik kritisiert nicht die Antworten, sondern die Fragen“ (Marx). Wer statistisch bestätigt haben will, was er von seinen Kommilitonen immer schon befürchtete, findet in dieser dankenswerten Studie Material; ihrem Subtext sollte man hingegen nicht weit folgen: sie ist nicht kritisch genug.