Fabian Kettner

Karl-Heinz Haag: Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung

Die Philosophie bei der Arbeit
Das langerwartete neue Buch von Karl Heinz Haag ist erschienen

Vorbemerkungen

„Du sollst dir kein Bild machen“ heißt: du kannst nichts über das Absolute aussagen. Insofern steht auch am Anfang der kritischen Theorie sowohl das jüdische Verbot als auch die Kantsche Aufzeigung der Grenzen des Vernunft-Denkens. Gibt es eine Erfahrung im nicht-wissenschaftlichen Sinn, das heißt eine Erfahrung, die sich nicht empirisch verifizieren läßt? [...] In einer bestimmten historischen Situation vermag ich mit einigem Anspruch auf Wahrheit [zu] behaupten: Mord ist schlecht, Folter ist schlecht, aber ich kann nicht sagen: den Mord unterlassen ist gut. Und selbst die Aussage, was schlecht sei, setzt logisch eine letzte Autorität voraus, die es verbietet. [...] Wahrscheinlich liegt der kritischen Theorie trotz ihrem Verzicht, die Wahrheit auszusprechen, ein Paradox zugrunde: sie weiß, daß es keinen Gott gibt, und doch glaubt sie an ihn.
Max Horkheimer (GS 14, S. 507f.)

Ohne den Glauben an Gott trägt jede Freundlichkeit gegen einen anderen den Stempel der Sinnlosigkeit. Ohne den Glauben an Gott hat der Begriff der Wahrheit keinen Sinn. Adorno geht so weit zu sagen, daß ohne einen Gott das Denken sinnlos ist. Bei diesen Überlegungen fängt das Denken an: Alles andere ist längst bekannt oder ohne Interesse. Ohne Glauben an Gott fallen die Menschen als Menschen hinter das Mittelalter zurück.
Max Horkheimer (GS 14, S. 369)

Ohne die Gegenwart der letzten Stufe [i.e. des „absoluten Bewußtseins“, F.K.] wäre der Mensch so wenig einer Bewußtseinsregung fähig wie ohne die Gegenwart Gottes eines Atemzuges. Dieser Satz, schon an dieser Stelle, ist heute schockierend. Ihn nicht auszusprechen, wäre gleichbedeutend mit der völligen Verachtung des Lesers. Es wäre so, als wenn man mit jemand spräche, ohne den Sinn des ganzen Satzes zu konzipieren, sondern die Wörter auf gut Glück einzeln aus dem Munde purzeln ließe.
Bruno Liebrucks: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, S. 9

Karl Heinz Haag hat nie viel geschrieben. Dies gilt sowohl für die Anzahl seiner Veröffentlichungen wie für deren Seitenumfang. 1924 geboren studierte er an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen v.a. scholastische Philosophie, promovierte 1951 aber bei Max Horkheimer mit einer Arbeit über Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie. Adorno widmete ihm seine Drei Studien zu Hegel. Haag habilitierte in Frankfurt/M 1956 mit einer sehr guten Heidegger-Kritik, die 1960 unter dem Titel Zur Kritik der neueren Ontologie (95 Seiten) erschien. 1967 folgte der Hegel-Kommentar Philosophischer Idealismus (67 Seiten), 1971 der schmale Traktat Zur Dialektik von Glauben und Wissen (14 Seiten). Dann blieb es lange still. „Tausend Seiten kann ein jeder schreiben“, soll er, so ein Freund, anlässlich des Erscheinens der Theorie des kommunikativen Handelns vom ehemaligen Kollegen Habermas gesagt haben. Zwei Jahre später, 1983, legte er einen gewaltigen Abriss von über 2000 Jahren Philosophiegeschichte, bis aufs Äußerste verdichtet, auf 203 Seiten in Der Fortschritt in der Philosophie vor.

Hier führte Haag sein enormes Talent vor, ungeheuer komprimiert, dicht und kondensiert zu schreiben, ohne unverständlich zu werden. Stets stellt er dem Leser alles vor, was dieser wissen muss, um das Buch verstehen zu können. Er bringt das Kunststück fertig, dass er den Leser imstande setzt, ihm folgen zu können; er stellt die komplette Ausrüstung zur Verfügung, die der Leser braucht, um mit ihm auf Reise gehen zu können. Vorkenntnisse sind natürlich immer praktisch, werden aber (fast) nicht benötigt. Wer welche hat, dem werden sie durch die Lektüre in anderem Licht erscheinen, wenn er nicht sogar etwas dazulernen kann.
Er gibt nicht bloß eine Darstellung philosophischer Systeme, nicht bloß eine Nacherzählung dessen, was an ihnen (un-)verständlich ist, sondern er ermöglicht, was sonst kaum einer schafft: den denkenden Nachvollzug mehrerer Jahrhunderte Philosophie. Nicht nur damit ist er ein Glücksfall unter publizierenden Philosophen und untypisch für die Zunft: er ist auch deswegen so gut verstehbar, da seine Darstellung eine kritische ist. Stets sind seine Texte beeindruckend stringent: ein Gedankengang wird in einem gewaltigen Lauf durch die Jahrhunderte der Philosophiegeschichte entwickelt. Ohne Abschweifung und Umweg spricht Haag durch die Kritik philosophischer Lehren und Systeme über das, was ihm Gegenstand ist. Dabei gelingt ihm das schier Unmögliche, in höchstmöglicher räumlicher Beschränkung und Knappheit einen großen gedanklichen Reichtum zu entfalten. „Skrupulös“, so bezeichnete seine ehemalige Lektorin seine Art, wie er Texte abfasst. Wie fein gedrechselt und komponiert seine Bücher sind, das kann man nun wieder nachvollziehen.

Wie alle anderen seiner Bücher war auch Der Fortschritt in der Philosophie längst vergriffen, auch antiquarisch nur schwer erhältlich. Ein neuer und kleiner Verlag hat dieses Buch nicht nur neu aufgelegt, sondern gleich das neue, das bei Suhrkamp viele Jahre lang angekündigt war, herausgebracht. Das neue, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, überschneidet sich mit dem alten. Haag gibt dies zu und entschuldigt sich berechtigterweise mit dem Hinweis, dass das neue Buch für sich sonst nicht zu verstehen gewesen wäre.

Haags Thema war und ist in all den Jahren die Bemühungen der Philosophie, die Welt zu erfassen. Seit der Antike beobachtet er das gleiche. Bereits die Kritik des Mythos durch Platon führte zu einer „Vergeistigung“ (15) der Welt. Seitdem wird Natur rücksichtslos unter Begriffliches, Geistiges, wird das Besondere unter das Allgemeine subsumiert; seitdem nimmt Philosophie immer wieder eine folgenreiche Verkehrung vor: wird das den Dingen Gemeinsame zu ihrem konstitutiven Wesen erklärt, werden die Dinge zu „Abbildern ihrer eigenen Imitation“ (13) gemacht. Das Geistige, seien es Ideen, Kategorien oder Begriffe, gilt als Erstes, aus dem alles andere abgeleitet wird. Die Materie sank dem gegenüber zur gestaltlosen Stofflichkeit herab. Haag konstatiert eine Radikalisierung dieses Verfahrens über Aristoteles und den Neuplatonismus bis hin zu Hegel: allesamt Variationen des immerselben Fehlers, des großen Pseudos der Philosophie. Aus dem Nichts soll alles kommen, so fasst Haag die „paradoxe Logik“, „das mystische Konstitutum idealistischer Weltsysteme“ (19f.) zusammen.

Die Widersprüche, in die Philosophie sich damit begab, brachen im Universalienstreit des Mittelalters auf. Indem die mittelalterliche Philosophie die Mängel und Erklärungsnotstände der Metaphysik auffangen, indem sie sie also retten wollte, zersetzte sie sie nur weiter: von der in den Universalien gefassten göttlichen Ordnung des Kosmos blieb nur die begriffliche Ordnung, die mit der Welt an sich nichts zu tun habe, die vielmehr nur auf die abstrahierenden Leistungen des Erkenntnissubjekts zurückzuführen sei. Der Nominalismus, „die erste und grundlegende Weltauffassung der beginnenden Neuzeit“ (30), verflüchtigte das, was bislang als das Allerrealste galt, die Universalien, zu bloßem Schall und setzte an ihre Stelle das Einzelding. Dieser alte Streit, der im Laufe der Jahrhunderte im Bündnis mit den sich von Theologie und Philosophie emanzipierenden Naturwissenschaften die Metaphysik immer mehr zurückdrängte, rumort immer noch. Haag zeichnet nach, wie in den folgenden Jahrhunderten die Philosophie dem Nominalismus willfahrte, auch wo sie ihm in der Konstruktion eines „absoluten Geistes“ entgegensteuern wollte, und im (Neo-)Positivismus (ver-)endete, der die Philosophie schließlich abschafft.

Um dies geht es seit jeher in Haags Schriften. Die Probleme solcher Philosophie sind altbekannt: Chorismos und Methexis. Zum einen klafft zwischen allgemeinen Ideen und Einzeldingen ein Abgrund. Wie hat das Besondere am Allgemeinen teil? Wie kann es das? Wie individuiert sich das Allgemeine? Wie kann es dies? Und wieso sollte es dies überhaupt? Zum anderen ist in den statischen Weltsystemen keine Veränderung denkbar, Fortschritt nicht begrifflich fassbar. Im Buch über den Fortschritt in der Philosophie gab Haag zwei positive Bezugspunkte an, wo Philosophie sich sich selbst widersetzte, bei der „negativen Ontologie“ (Alfred Schmidt) Immanuel Kants und Karl Marx’ (und ihrer Art Synthese, der Philosophie Theodor W. Adornos): man kann sagen, dass es ontisch Gegebenes gibt, aber über es selber können wir positiv nichts aussagen, da wir immer nur ihre Erscheinung (Kant), resp. ihre gesellschaftlich vermittelte Form (Marx) kennen. Diese beiden Ansätze baut er im neuen Buch aus, indem er die Kritik an Philosophie auf die an Naturwissenschaft und Theologie ausweitet.

Auch in der Theologie, sei’s in der protestantischen (Haag bezieht sich auf Bultmann, Tillich, Barth), sei’s der katholischen (Rahner, Küng, Metz, Ratzinger) muss man beobachten, wie Nominalismus und Naturwissenschaft willfahrt und gleichzeitig ausgewichen wird. Die Theologie räumte das Feld der empirischen Welt; ein radikal entmythologisierter und entsubstantialisierter Gott wurde in ein sicheres aber eben auch unerreichbares Jenseits verschoben. Stattdessen versteift man sich auf den Akt des Glaubens. In einer gründlich positivierten Welt erkennt man die Resultate der Naturwissenschaften zwar an, hält ihnen aber ein trotziges „Dennoch“ entgegen. Warum man dies sollte, kann Theologie nicht mehr angeben, weil sie einen objektiv gegebenen Gott längst aufgab. Glauben wird zu einem irrationalen Akt, wo dem Gläubigen kein Gott mehr gegenübertritt. Die Existenz von Religion und Gott wird auf die Entscheidung und Leistung des Gläubigen reduziert und ist damit „selber noch ein Stück unerkannter Mythologie. Zum Götzen gemacht wird in ihm menschliche Subjektivtät“ (67). Die Naturwissenschaften sind vergleichsweise reflektiert. Auch wenn Nominalismus und Positivismus ihre Wegbereiter und Weggefährten waren, so sind sie für die Naturwissenschaften unbrauchbar, da diese eine von sich aus erkennbare Natur rationalen und kohärenten Aufbaus voraussetzt. Aber auch wenn sie im Gegensatz zur Metaphysik um ihre Rolle und ihren Einfluss bei der Formierung ihrer Erkenntnisobjekte wissen (Heisenberg, Weizsäcker), so können sie weder den Gesamtzusammenhang der von ihr isolierten Phänomene und der von ihr erkannten partikulären Gesetze herstellen, noch kümmert sie die Entstehung ihres Gegenstandes. An dieser Stelle sind sie irrational. Nach Haag aber könne exakte Naturerklärung rationale Naturerklärung werden, wenn sie sich ihrem Gegenteil zuwendet: der Metaphysik. Mit der Naturwissenschaft treibt man auf Konsequenzen zu, die ihrem eigenen Anspruch am stärksten zuwiderlaufen. Bei ihr kommt man einer rationalen Metaphysik am nähesten. Hier kann man sehen, wie eine Disziplin, die keine Philosophie sein will, „auf ein philosophisches Denken aufgespannt“ (100) ist, ohne dies zu wissen.
Haag bemüht sich um eine Philosophie jenseits von Nominalismus & Universalismus/Realismus wie Materialismus & Idealismus. Ihnen muss er entkommen, wenn der Nominalismus nur die Konsequenz aus den Fehlern der Metaphysik zog. Er ist die Gegenposition zur Metaphysik, die mit deren Prinzip ernst macht: der Reduktion von Welt auf abstrahierende Bestimmungen. Haags Verhalten zur Metaphysik ist auch kritisch, aber es geht ihm nicht nur um die „Negation des Falschen an ihnen.“ Ihr Wahres müsse inmitten ihres Unwahren erkannt werden, „zur Rettung der richtigen Intention“ (118). Wie aber gelangt man nun von den Naturwissenschaften zu einer rationalen Metaphysik, wie kann die Grenze physikalischer Erkenntnis „legitim“ (99) überschritten werden? Die rational aufgebaute Natur, die die Naturwissenschaft beweist und voraussetzt, weise auf das „Walten einer ‚allmächtigen Vernunft’“ (Max Planck, 100) hin. So gelangt Haag „in logischer Strenge“ (115) zu Gott. Über diese allmächtige Vernunft könne inhaltlich nichts gesagt werden. Dies ist Haags „negative Theologie“ resp. „negative Metaphysik“: man muss einen Gott annehmen, man muss von einer Metaphysik ausgehen, aber über diese kann man positiv keine Aussagen treffen. Man kann „lediglich zeigen, daß die Annahme einer allmächtigen Vernunft unerläßlich ist für eine rationale Weltauffassung. [...] Kritisch denkend muß menschlicher Geist auf inhaltliche Aussagen über das Sein und Wirken der Gottheit prinzipiell verzichten“ (111).

Das Ziel von Haags Bemühungen mag verblüffen. Eine kritische Philosophie ist sowohl den auf Gott aufbauenden philosophischen Systemen wie der Theologie gegenüber der bessere Theologe. Indem sie Gott rettet, tritt sie für die Menschen und ihre Welt ein. Die Theologie enttäuscht auch noch den, der Glauben und Wissen zwar ablegte, aber meinte, in ihr – vom Inhalt abgesehen – wenigstens noch ein Residuum zu finden, wo man an absoluter Wahrheit festhält. Aber dazu ist sie auch noch irrational; nicht weil sie an Übersinnliches glaubt, sondern weil sie die Vernünftigkeit dieses Glaubens nicht zu begründen vermag. Ihren Gott hat sie verflüchtigt wie die Syteme pantheistischer Metaphysik. Hier ist Gott „limitiert auf reine Identität“ (29) und im selben Zug die Welt darauf reduziert, nichts als ein Modus göttlicher Existenz zu sein. Aber von was für einer: „Zum völlig unpersönlichen Identitätssystem geworden“ (47), in das „nichts eindringen kann, ist Gott [...] nicht von sich aus ein unergründliches Geheimnis, sondern nur ein Mysterium durch ein menschliches Denken, das von der Welt und seinen eigenen Leistungen abstrahiert“ (86).
Freilich ist auch der Gott, den Haag zurückbehält, merkwürdig leer; er ist ein „Gott ohne Eigenschaften“ (Erich Heintel). Gerade in Bezug auf die Denk- und Sagbarkeit Gottes, auf die von Haag behauptete Inkompatibilität von Gott und Denken, wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit Hegel interessant und fruchtbar gewesen. Aber dessen Philosophie legt er in alter Feindschaft als ärgste Form von Pantheismus und Identitätsphilosophie – als hätte Hegel nicht beides (teilweise mit den gleichen Argumenten wie Haag) selbst kritisiert – stets sofort zur Seite.

Die Versöhnung des scheinbaren Widerspruchs von Metaphysik und rationaler Welterklärung hat bei Haag auch eine politische Dimension: er möchte der „nihilistischen Aushöhlung“ (113) durch den Nominalismus entgegenwirken. Das nachzuweisen, „was die Menschen zu einem sinnvollen Dasein brauchen“ (116), das meint nicht das „metaphysische Winterhilfswerk“ (Adorno), in einer angeblich entsäkularisierten Welt Gott aus Pragmatismus als drohende moralische Instanz und als Sinnstiftungsangebot wiedereinzuführen, um die Menschen brav und ruhig zu halten. Der Nihilismus des nominalistischen Denkens, das ist der „theoretische Kampf gegen die Wesenheiten in den Individuen.“ Ist er erfolgreich, so geht auch verloren, „daß ihre Existenz an Solidarität gemahnt“ (8). Das Denken, das sich selbst als aufklärerisch (miss-)versteht und die Menschen aus ideologischer Befangenheit befreien will, indem es ‚Substanzen-’ und ‚Wesenslehren’ dekonstruiert, macht nicht nur das Unwesen der herrschenden Verhältnisse unerkennbar (worüber Haag nicht spricht), es hat auch darin seine Dialektik der Aufklärung, indem es die Menschen zu Stückgut für Herrschaft isoliert.

Karl-Heinz Haag: Der Fortschritt in der Philosophie
Humanities online, Frankfurt/M 2005
ISBN 3-934157-40-8
218 Seiten, Euro 20,00, Euro 18,00 (als text- und seitenidentischer Download unter www.humanities-online.de für Euro 10,00)

Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung
Humanities online, Frankfurt/M 2005
ISBN 3-934157-39-4
120 Seiten, Euro 18,00 (als text- und seitenidentischer Download unter www.humanities-online.de für Euro 9,00)

Literatur:
Horkheimer, Max. Gesammelte Schriften. Hgg.v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/M: Fischer, 1988ff.
Liebrucks, Bruno. Sprache und Bewußtsein. Neun Bücher in sieben Bänden. Frankfurt/M: Akademische Verlagsanstalt, 1964ff., resp. Frankfurt/M – Bern: Peter Lang, 1974ff.
Band 5: Die zweite Revolution der Denkungsart. Hegel: Phänomenologie des Geistes. (1970)