Christoph Hesse

Jean-Luc Godard: Das Gesagte kommt vom Gesehenen. Drei Gespräche

„Es hat den Anschein, als wäre ich nostalgisch...“

Jean-Luc Godard im Gespräch

Was macht ein Filmemacher, wenn er alt geworden und mit ihm die große Zeit des Kinos vorbeigegangen ist? Nicht mehr viel: Eine „Einführung in die wahre Geschichte des Kinos“ hat er schon geschrieben, und Filme, die nicht mal mehr ihn selbst wirklich interessieren, macht er nur noch sporadisch. Wenn ihm danach ist, empfängt er sogar Journalisten, die ihm lästige Fragen stellen. Drei solcher Gespräche dokumentiert der Band „Das Gesagte kommt vom Gesehenen“.

Jean-Luc Godard ist nicht einfach ein sogenannter Autorenfilmer, worunter man sich hierzulande eine Art Kulturdenkmalspfleger vorstellt, dessen künstlerischer Ehrgeiz vor allem darin zum Ausdruck kommt, daß er das Kinopublikum im Handumdrehen in ein Sanatorium verwandelt. Die Seminarschlauheit, die einem dagegen mit dem Tod des Autors kommt, hat er dennoch ausgiebig Lügen gestraft und dabei übrigens eine bessere Figur abgegeben als die meisten Autoren, die sich an der Interpretation seiner Filme zu Tode mühten. Richtiger wäre gewesen, vom allmählichen Tod des Kinos zu sprechen, der etwa zu dem Zeitpunkt eingesetzt hat, als Godard damit aufhörte, es mit jedem Film neu zu erfinden.

Godard begann in den fünfziger Jahren als Filmkritiker bei den Cahiers du Cinéma. Anders als François Truffaut oder Eric Rohmer, die ebenfalls Filmkritiker gewesen waren, setzte allerdings Godard diese Tätigkeit auch als Filmemacher fort und gab der Filmkritik dadurch eine völlig neue Bedeutung: Es ging nicht mehr um gute oder schlechte Rezensionen in irgendwelchen Zeitschriften, sondern um eine Kritik des Kinos, die sich selbst in der Sprache des Films mitzuteilen wußte.
Ob diese Art des „Sprechens“ deshalb eine ausformulierte Theorie des Films ersetzen kann, hat Gilles Deleuze später mit gutem Grund bezweifelt. Daß eine solcherart praktische Kritik des Kinos, im Unterschied zur begrifflichen Praxis der Theorie, selber Kino ist – und also von Hause aus in ihren Gegenstand verliebt –, macht die Kritik aber noch keineswegs hinfällig, im Gegenteil. Wenn ein Gesellschaftskritiker anfängt, die Gesellschaft zu lieben und von allen Seiten zu befummeln (was man irgendwann Politik nennt), ist er als Kritiker am Ende. Anders beim Film, einem Ausdrucksmedium, dessen Regeln vielleicht nicht unbedingt leichter zu durchschauen, auf jeden Fall aber einfacher über den Haufen zu werfen sind als die „Naturgesetze“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Wer z.B. Hollywoodfilme meint kritisieren zu müssen, darf sie dennoch lieben und sogar nach Herzenslust nachahmen; bereits Godards erster und bis heute berühmtester Film A bout de souffle („Außer Atem“, 1959) legt davon Zeugnis ab. Das unterscheidet, neben allem sonstigen Vorsprung an Talent und Humor, Godard auch von Fassbinder, Kluge oder Herzog, die der Leichtigkeit des amerikanischen Kinos stets nur schwerfälliges deutsches Studententheater entgegenzusetzen hatten. Godards Filme, auch wo sie sich selbst gleichsam als Diskurs über das Kino inszenieren, geben nichts von jener Lust preis, die das Kino im Gegensatz zu schnöden Abhandlungen bereitet.
Der französische Filmtheoretiker Christian Metz meinte damals, wer Godard ablehne, der stelle sich überhaupt gegen das Kino. Vergleichbares ließe sich heute von keinem Filmemacher mehr sagen, nicht einmal von Godard selbst. So wie seine bis Anfang der siebziger Jahre produzierten Filme zu den bedeutendsten ihrer Zeit gerechnet werden müssen, so ist Godards seitherige Entwicklung zugleich Beweis dafür, daß selbst große Künstler den Regeln des historischen Materialismus ausgesetzt sind, die in diesem Fall ungefähr besagen, daß eine bestimmte Kunst nur zu bestimmten Zeiten möglich ist. Warum das so ist, dürfte ebenso schwer fallen zu begreifen wie die Tatsache zu verkraften, daß einer wie Godard sich aus dem Kino zurückgezogen hat.

Das hindert ihn glücklicherweise nicht daran, noch immer alles besser zu wissen als die jungen Kollegen, deren Filme zumeist schon aussehen, als hätte sie ein vom Leben gelangweilter alter Hase mit lediglich neuem Spielzeug fabriziert. Was die „Neuen Wellen“ des Kinos der Sechziger auszeichnete, war unter anderem Spontaneität, eine Verhaltensweise, die Godard auch als Gesprächspartner noch vortrefflich beherrscht. Es mag an seiner eigenen Listigkeit oder der Ratlosigkeit der Fragenden liegen, dass die Gespräche kein erkennbares Thema haben. Dem Lesevergnügen tut es jedoch keinen Abbruch, wenn Godard plötzlich über die ungarische Fußball-Legende Ferenc Puskas schwärmt: „Wenn der Kommunismus je existiert hat, dann ist es die Mannschaft von Honved Budapest, die ihn am besten verkörperte.“
Wer etwas von seinem Metier versteht, erklärt dem Neugierigen alles immer nur im Vorbeigehen. So erklärt Godard, warum die digitale Revolution, von der allenthalben die Rede ist, dem Kino ganz gut hätte gestohlen bleiben können. Man kennt solche Revolutionen, die im Grunde nur schlechte Gesetzesänderungen sind und die dem staunenden Publikum deshalb als dernière nouveauté schmackhaft gemacht werden. So als könne, wer schon von der sichtbaren Welt kein richtiges Bild hinbekommt, sich am Bildschirm ein besseres ausmalen. Filme wie Star Wars oder Matrix findet Godard „zu dumm und zu häßlich“. Und er gehört zu den wenigen, die solche Urteile auch vor Pedanten mühelos rechtfertigen können, weil er selbst allen schon vor Augen geführt hat, wozu die ästhetischen Produktivkräfte des Films bereits vor vierzig Jahren imstande waren. Was er zu sagen hat, kommt tatsächlich vom Gesehenen.

Jean-Luc Godard: Das Gesagte kommt vom Gesehenen. Drei Gespräche, Gachnang & Springer, Bern/Berlin 2003, 128 Seiten, 21,90 Euro

(erschienen in: Konkret, Nr.11, 2003)