Fabian Kettner
Jana Hensel: Zonenkinder
Die ewige Deutsche
1989, als die Mauer fiel, war Jana Hensel dreizehn Jahre alt. Dies, so sagt sie, sei „der letzte Tag meiner Kindheit“ (11) gewesen. Hätte ihr damals jemand gesagt, dass „unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen würde, sodass nichts mehr von ihm übrig bliebe, dann hätte ich ihn bestimmt verwundert angeschaut und im Stillen bei mir gedacht, unser Land könne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es das schaffen“ (13). Das Wunder geschah und an sich selbst wie an Freunden konnte sie obendrein feststellen, dass sie danach strebte, die Vergangenheit verschwinden zu lassen, „als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zu trennen“ (14). Was war, habe nun nur noch den „Geruch eines Märchens“ (13) und aus ihrer Kindheit sei „ein Museum geworden, das keinen Namen und keine Adresse hat und das zu eröffnen kaum noch jemanden interessiert“ (20). Alles konnte nicht verschwinden: Plätze, Gebäude blieben stehen. Aber diese seien nun „übermalte[.] Orte“ (30); die Dinge von früher „hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. [...] Schalter hießen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen“ etc.pp. (22); nun bewege sie sich „wie ein Tourist im eigenen Leben“ (32). Erinnerungen könne sie kaum noch evozieren, nun aber möchte sie „wieder wissen, wo wir herkommen“ (14), und das klappt dann – behaupteter Ladehemmungen zum Trotz – auch ganz gut. Immerhin bekam sie mit ein wenig Talent mit ihrem Weg von der DDR-Kindheit in die BRD-Gegenwart, über die Unterschiede von Ost & West über 150 Seiten vollgeschrieben, auch wenn sie sich gerne wiederholt.
Neid verspürt sie auf die gleichaltrigen Westler, die ihre Kindheit zwar unerträglich finden, sie aber jederzeit wiederfinden können. Die Erinnerungen, die sie noch hat, kann sie mit denen nicht teilen, denn jene reden über „den Herrn der Ringe, Pippi Langstrumpf, Donald Duck oder Dagobert“, wohingegen sie nur „Alfons Zitterbacke“ et al. kennt. Wer da mittun könnte. „Mit einem Schlag“ aber hatte sie „es satt, anders zu sein als all die anderen“ (25f.). Sie muss gute Freunde haben, wo das so sehr ins Gewicht fällt und wo Anders-Sein nicht möglich ist. Anstatt daraus die Konsequenzen zu ziehen, schmollt sie zunächst ein wenig und macht sich dann umso verbissener daran, sich an das zu binden, was sie abstößt, – anstatt ihren gekränkten Narzissmus begrifflich zu organisieren und ihrem subjektiven Leiden auf den objektiven Grund zu gehen.
Was der aufmerksame Leser findet, sind vor der Aggression jammernde Deutsche, die ihre Dummheit als Nachdenklichkeit verkaufen; die bekommen haben, was sie wollten und nun davor in Schutz genommen werden möchten. Nicht, dass Hensel für den Fall der Mauer zu verantworten ist, aber, so sagt sie über sich selber, es sei für sie „immer das höchste Gebot gewesen, schon vorher zu wissen, was man von mir verlangte“, auf jeden Fall wollte „nicht auffallen und immer Durchschnitt bleiben“ (91). Wessen Maxime das ist, der soll sich über Identitätsprobleme und mangelndes Glück nicht beklagen. So handelte sie früher, so handelt sie heute: „Wir“, „die ersten Wessis aus Ost-Deutschland“ (166), „wir wollen Geld verdienen und allen zeigen, dass wir die Spielregeln des Westens gelernt haben und damit umgehen können“ (80). Und das können sie: „Schön“ sei es, „sich von nun an nur noch um sich selbst kümmern zu müssen“ (99), auch wenn man da wenig hat.
„Um sich selbst kümmern“, das tut man mit Kleidung. Wer Zonenkinder liest, bekommt den Eindruck, die DDR sei untergegangen, weil die Ostler nicht mehr ertragen konnten, keine West-Markenprodukte zu haben. Hensel schreibt permanent darüber. Sie bewundert zehnjährige Ost-Kinder der Gegenwart um „ihre geschmackssichere Kleidung“ (58); sie, die früher „richtiger Sozialneid überkam [...], wenn die anderen bunte T-Shirts, Jeans oder adidas-Schuhe mit Klettverschluss trugen“ (103); die in der Adoleszenz nachts von den „bunten französischen Turnschuhen und Jogginganzügen“ der Austauschkinder träumte und davon, dass sie sich „in jemanden verlieben würde, der genauso modisch aussah wie sie“ (125f.).
Das Problem in Zonenkinder ist das wie in jeder aktuellen Literatur, sei’s Bret Easton Ellis, sei’s Michel Houllebecq oder sei’s die sog. „dt. Pop-Literatur“, die den status quo mit wehleidiger bis faszinierter Geste abzubilden sich bemüht: kritisiert oder affirmiert sie? Will Hensel ‚nur beschreiben’, was ist? Oder findet sie nicht gut, dass sie so ist? Wie weit geht sie dabei? Gefällt sie sich in ihrer Selbstdarstellung? Der Sprache lässt sich dies nicht ablauschen, aber weiter als bis hierhin kommt sie nicht: „Es gibt nichts, was so ist, wie es sein soll. Doch langsam fühlen wir uns darin wie zu Hause“ (155). Du hast es geschafft, Mädchen.
Jana Hensel: Zonenkinder Reinbek: Rowohlt, 2002 ca. 170 Seiten, € 14,90