Fabian Kettner
Irmtraut Balz: Für einen Augenblick wachsen uns Flügel. Eine Kindheit 1933 – 1945
Idas Welt
Wenn Deutsche über den Nationalsozialismus sprechen, stellen sie sich gerne naiv. Und wie perfekter ließen sich Einsicht und Erkenntnis vermeiden, wenn man die Perspektive eines Kindes und die der gewöhnlichen Leute einnimmt?
Ida Pelzer, die Ich-Erzählerin, wird 1931 geboren. Der Leser verfolgt ihre Kindheit in einem kleinen Ort vor Köln während des Dritten Reichs. Indem die Autorin durch sie beobachtet und spricht, muss sie ‚realistisch’ sein, d.h. sie kann sich vorweg gegen den Vorwurf immunisieren, das, was der Nationalsozialismus war, nicht adäquat zu erfassen. Sie erwähnt zum richtigen Zeitpunkt die ‚großen Ereignisse’ (und damit soll das Buch wohl Bildungseffekte erzielen), aber stets kommt es fremd, wie durch einen Filter an. Mit Ida steht der Leser vorm Schlüsselloch und sieht mehr oder weniger von dem, was ‚die da’ wieder treiben. Sie gibt nur wieder, was durchs Kind hindurchpasst, und der Kindermund, der es dann naiv bis altklug wiedergibt, das weiß der Reader’s Digest-Leser, tut immer Wahrheit kund. Sie erzählt also eine kleine Geschichte von Ida, ihrem Vater, dem Lehrer der alten Sprachen und dem Rest der Familie mit dem Milieu von Milchmännern, Postboten, Bauern, Handwerkern, Bediensteten und Jugendfreunden und –freundinnen, das um sie herum existiert. „Ich las die ersten zwei, drei Seiten und hatte gleich den Ton im Ohr, auf den diese Welt gestimmt ist“, so in der Verlagsempfehlung. Diese Welt, das ist die der Kindheit in Feld, Wald und Wiese, über Blumenwiese und Bach, unter Kirschbaum und Abendrot; ihr Ton ist das Lokalkolorit des Kölsch, und diese Welt und dieser Ton, in den man sich gleich behaglich einfindet und unter deren Führung man die ca. 350 Seiten des Buches flugs durchgelesen hat, sind verlogen. Irmtraut Balz betreibt sicherlich keine Verklärung oder gar Verherrlichung. Sie lässt keine der Unannehmlich- und Ungerechtigkeiten einer Kindheit aus, und der Nationalsozialismus kommt in allen Facetten vor: die Parteifunktionäre, die Schwemme des Symbolkitsches, der Zwang zur Anpassung ebenso wie die begeisterte, die freiwillige, die widerwillige oder die opportunistische Unterordnung, die HJ und der BDM, die Verhaftungen nonkonformistischer Originale ins KZ, die Diskriminierung und das Abholen der Juden, sowie die Gerüchte über deren Ermordung im Osten, die Bombenangriffe, das Warten im Keller und die Kinderlandverschickung. Sie lässt nichts aus und vielleicht kann man insofern dieses Buch ‚realistisch’ nennen, aber es bewirkt nur eines: es bestätigt die Sicht, die die Deutschen schon immer über ihr Lieblingsthema haben und das sie nicht müde werden, auf »Spiegel«-Titelbildern zu begaffen.
In irgendeiner Lokalzeitung in Deutschland wird man am 09. November immer diesen Satz finden: „Die Nazis/die braunen Horden warfen Fensterscheiben jüdischer Geschäfte ein/zündeten die Synagoge an und die Deutschen schauten zu.“ Die Nazis, das sind immer die anderen. Im Schuldeingeständnis, dass die Deutschen nichts dagegen gemacht haben, steckt gleichzeitig die Abwehr. In Balz’ Buch tritt der Nationalsozialismus vornehmlich in Gestalt von Eindringlingen und Neuerungen auf. Da gibt es den an Vaters Schule neu eingesetzten Direktor, „den Braunen“, der den Vater zuerst verwarnt, dann schikaniert und vor den Schülern lächerlich macht, indem er sich gegen die alten Sprachen ausspricht; die SA-Männer, die ständig besoffen sind, Radau machen und die eigene Freundin schlagen (43f.); den Herrn Flintscher, ein verwachsenes Kerlchen, der als Blockwart den symbolischen Alltag seiner Mitmenschen überprüft, aber unterwürfig vor einem beliebigen Napola-Schüler in HJ-Uniform kuscht (107f.); Paulchen, ein Halbwüchsiger, der als Päderast auffällig und verhaftet wird und schließlich bei der SS landet (112f.). „Die Nazis“ (123), das sind staatlich gedeckte Kriminelle, die lügen (317), „die klauen alle wie die Raben“ (171). „Wie diese Nazis meine Kinder und mich ausrauben“, kann Idas Mutter einmal seufzen (314). Der Nationalsozialismus verwirrt die Menschen mit „den vielen Feiertagen, die wir jetzt haben“ (74) und stiehlt den Deutschen ihre Orte der Erinnerung, indem der „Deutsche Ring“ in Köln, wo Mutter mit Vater zum ersten Mal auf der Bank saß, in „Adolf Hitler-Platz“ umbenannt wird (77). Er verordnet Neues und tritt als fremde Macht auf. Man muss sich Sorgen über seine Abstammung machen (20f., 27); im Laufe der Remilitarisierung werden wieder Wehrpflichtige einberufen (97); von dem Anschluss Österreichs erfährt man übers Radio vom „Schreihals“ Führer wie aus einer fremden Welt (99); der Blockwart Flintscher, den alle „Pinscher“ nennen wie ein Nachkriegs-Nazi die Intellektuellen, bringt Gasmasken ins Haus und zwängt eine davon Ida aufs Gesicht, bis sie ohnmächtig wird (104). „Die Nazis“, die sind nicht von hier, nicht von uns, nicht von Idas Welt & Ton. Wie aber reagiert diese darauf? Sie spottet über die „Joldfasane“ und „dat Kackbraun“ und albert: „Du bist das beste Beispiel für unsere Verwelschung, sagt mein Onkel grinsend [zur Oma, die französische Worte verwendet], paß nur auf, daß sie dir nicht den Mund verbieten“ (115); sie mosert über „den braunen Quatsch von den Fahnen im Sturmwind“ (140), wo sie doch lieber was anderes singen möchte (bspw. die gänzlich unverdächtige Marika Rökk aus der Nazis Kriegsstimmungsbombe „Wunschkonzert“ (295f.)) und „dat falsche Kreuz [das Mutterkreuz] näm ich nit. Un schon janit von däm Jesocks, die den da oben verleugnen“ (135). Sie legt also genau die Haltung an den Tag, die Martin Broszat „Resistenz“ taufte, in Ermangelung von wirklichem Widerstand der Deutschen, was aber trotzdem schön nach der französischen „Résistance“ klingt. Aber auch die vergeht Idas Welt & Ton, genauso wie das Lachen. Zum einen, weil man ständig Angst vor Denunziationen haben muss (120,125f.), vor den „Zuträgern“ (297), die überall unerkannt sitzen wie die IMs in der DDR. „Gestapo, flüstert Mutter“ dann nur noch angstvoll (141) und fühlt man sich erwischt hält man Ausschau nach der „schwarzen Limousine“, die einen verfolgen könnte. „Nachts werden sie abgeholt“ (252) weiß ein jeder, und man weiß auch wohin: „dorthin [..,] wo der Eisenkrämer schon ist und der Pfarrer Niemöller“ (121f.).
Zum anderen, weil man in den Bombennächten zermürbt wird. Weil Balz die Perspektive eines Kindes eingenommen hat, nimmt dies viel Raum ein, und der geneigte Leser mag mitseufzen über soviel Unglück. Weil dies so ist kommt der Kern des Nationalsozialismus: die Endlösung ganz natürlich nicht weiter vor, als dass man bemerkt, dass die wenigen Juden aus der Umwelt verschwinden (126) und man sich wundert, wohin die alle kommen. Man bekommt Mutmaßungen und Gerüchte über deren Ermordung zugetragen (166) und Idas Mutter gegenüber schüttet im Zug ein unbekannter SS-Mann sein Herz aus (257f.).
Ida kann das alles nicht verstehen: „zusehen, wie die Juden langsam zugrunde gehen, wer macht denn sowas?“ (120). Die Antwort wissen wir, ohne dass wir sie bei Balz nachgelesen haben müssten, aber zur Sicherheit steht sie auf fast jeder Seite: „die Dummheit“ (191), „die Nazis“, „die Braunen“, oder, an besonders prägnanter Stelle, „die da oben“, „die uns das antun“ (323). So ‚realistisch’ die Autorin werden mag, wenn sie auch Ida mitmachen lässt, so sehr bleibt Ida außen vor und kann sich immer wieder in ihre Familie zurückziehen. Die ist zwar nicht mehr heil wie sie sein sollte, weil der nationalsozialistische Staat in Gestalt Flintschers in die Kochtöpfe schaut, um zu überprüfen, ob am großen Volkssolidaritätstag alle Eintopf essen (111f.), weil er versucht, den Eltern ihre Kinder wegzunehmen und sogar jene gegen diese bis zur Denunziation aufhetzt (197f.). Aber dann gibt es auch noch die Natur, die Heimat, das Hinterland mit den ehrlichen Menschen, die sich ein normaler Deutscher vom „braune[n] Spuk mit seinen kopflosen Geistern“ (59) nicht enteignen lässt, – auch wenn in anderen Geschichten manche Juden aus Deutschland nach ihrer Befreiung feststellten, dass sie wegen „der Nazis“ nichtmals mehr die Sprache Hölderlins, die sie vorher so sehr liebten, sprechen können. Aber soviel Sensibilität und Liebe fehlt dem, der schreiben möchte wie ein zartfühlendes Kind.
Irmtraut Balz: Für einen Augenblick wachsen uns Flügel. Eine Kindheit 1933 – 1945. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2002