Fabian Kettner
Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt
Resteverwertung
Am 13. März 1900 wurde in Konitz, einer westpreußischen Kleinstadt ca. 110 km südwestlich von Danzig, der Torso des achtzehnjährigen Gymnasiasten Ernst Winter gefunden, der, so ergibt die Untersuchung, zwei Tage zuvor ermordet worden war. In den nächsten Tagen und Wochen werden weitere Körperteile gefunden. Da der Körper fachmännisch zerlegt wurde, vermutet man als Täter einen Schlachter. Rasch wird die Verdächtigung eines jüdischen Ritualmordes erhoben. „Die Geschichte des Schlachters“ ist die Darstellung eines wg. dieses Mordes verhörten christlichen Schlachters, der in einer in 50.000 Exemplaren von einem aus Berlin hergeeilten professionellen antisemitischen Journalisten bearbeiteten und vertriebenen Broschüre zum einen seine Unschuld belegen möchte, zum anderen eine Vorgabe liefert, warum Juden zu verdächtigen seien.
H.W. Smith rekonstruiert en détail die Ereignisse in Konitz, die Untersuchungen, die Aussagen, die Verdächtigungen und das allgemeine Klima, das schließlich zu symbolischen Ausschreitungen gegen die jüdischen EinwohnerInnen führte. In seiner Untersuchung kann man nachvollziehen, wie eine Ritualmord-Legende entsteht und sukzessive verfertigt wird. Ursprünglich von Außenseitern ins öffentliche Gespräch geworfen, wurde die Geschichte nach und nach ausgeweitet, ‚erinnerten’ sich die EinwohnerInnen im Laufe der Zeit an immer mehr. Ein zeitgenössischer Psychologe bezeichnete dies als „retroaktive[.] Halluzination“ und „Erinnerungsfälschungen“ (182). „In ihrer Phantasie malten sie sich heimtückische Untaten aus und heimliche Gespräche, die sie belauscht zu haben glaubten“ (85), „aber nur wenige Menschen gingen so weit, die vollständige Geschichte des angeblichen Ritualmordes zu erzählen. Die meisten sahen in ihrer Phantasie kleine Ausschnitte der ganzen Geschichte. Doch sobald man sie zusammensetzte, bildeten die vielen kleinen Bruchstücke ein eindrucksvolles Gebäude aus ineinander verschlungenen und verwickelten Fiktionen.“ Der Inhalt dieser Geschichten führt „mitten ins Zentrum der antisemitischen Phantasien“ (86); sie handeln von Grenzlinien und deren Überschreitung, von sexueller Übertretung und, über das vergossene Blut, von „gesellschaftliche[r] Befleckung“ (93). Smith macht einsichtig, wie solches Erzählen eine „soziale Handlung“ (72) ist, da durch das Verfertigen eines kollektiven Skripts, eines „Plots“, die „Grenzlinien der Gemeinschaft“ (97) gezogen werden. Die sich gegen die Juden entladende, in Konitz allerdings stark ritualisierte Gewalt stellt „eine symbolische Geschichte der Ausschließung und Vertreibung“ (152) dar, ohne diese Vertreibung handgreiflich vorzunehmen. Der „Sinn dieser Ausschreitungen“ (197) bestehe nach Smith in der Reinszenierung historischer Vorbilder. „Durch inszenierte Gewalt gegenüber den Juden konnten die Christen die soziale Erinnerung an ihre Ursprünge bewahren“ und außerdem „symbolisch ein Ghetto ab[stecken], hinter dessen Mauern die Juden Schutz suchen mußten“ (198f.). Streng genommen, so die Pointe Smiths, begingen die Christen den Ritualmord, nämlich einen ritualisierten, symbolischen Mord an den Juden (209).
Smiths Untersuchung ist eine interessante, gut geschriebene Geschichte, leicht aufgezogen wie ein historischer Krimi, in dem er eigene Ermittlungen durchführt und zu einer eigenständigen Aufklärung des Mordfalles kommt. In einem längeren Kapitel findet man eine gute Darstellung der Geschichte des Ritualmordvorwurfs. Wie viele andere historische Darstellungen bleibt auch seine gut, solange er sich mit Deskription begnügt, solange er sich bemüht, der reine Positivist zu sein, der niemand sein kann. Sobald er theoretische Prämissen unter der Hand einfließen lässt, erst recht aber, wenn er sie explizit macht, wird es bedenklich. Seine Form der Geschichtsschreibung nennt man „Mikrohistorie“. Der Wille zu höchster Konkretion und Unmittelbarkeit schlägt aber immer wieder arglos ins Gegenteil um. Einerseits fühlt man sich an die „Lindenstraße“ erinnert: im Laufe der Lektüre kennt man einige der EinwohnerInnen Konitz’, ihre Beziehungen untereinander und die Lage ihrer Häuser. Wenn Smith die antisemitischen Beschuldigungen eines Dienstmädchens gegen ihren Chef rekonstruiert, geht der Antisemitismus verloren und wird auf eine enttäuschte Liebesgeschichte reduziert (163ff.). Smith verwechselt hier die triebliche Motivation mit dem objektiven Rahmen, in den sie sich automatisch und nicht von ungefähr einpasst. Andererseits landet Smith bei höchsten – und damit leeren – Verallgemeinerungen: das gemeinsame „Muster“ der antisemitischen Beschuldigungen habe darin bestanden, ein „Mittel“ zu sein, um „Macht über die Juden auszuüben“ (156) und Verhältnisse von sozialer Unterlegenheit umzukehren. Gemeinsam sei den Beschuldigungen „ihre Verankerung in menschlichen Beziehungen“ (188). Wer wollte und könnte das leugnen? Aber was hat man damit ausgesagt? Was ist darin nicht eingebettet? Die Ereignisse in Konitz erzählten so „auch eine allgemeinere Geschichte von der Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen“ (189). Ach ja. Hierüber, wie über „den Zusammenbruch der menschlichen Solidarität“ (188), kann man dann einen schönen, zunächst über die Misere der modernen Welt und die „menschliche Neigung zur Gewalt“ (192) klagenden, schließlich aber zu mehr Gemeinsinn und sozialer Einordnung aufrufenden Besinnungsaufsatz fürs Feuilleton verfassen.
Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Göttingen: Wallstein, 2002. ca. 290 Seiten, € 29,-