Fabian Kettner
Hanno Loewy: Taxi nach Auschwitz. Feuilletons
Taxi nach Auschwitz
Im Taxi fährt „Salek“ „den Weg nach Auschwitz, den er nicht kennt, weil der Viehwagen, der ihn dorthin transportierte, keine Fenster hatte“ (17). „Hin und zurück“, Salek kann hier frei nachholen, was über ihn damals verfügt war, gleichzeitig aber wird er nicht wieder vorfinden, was damals war, auch wenn er an denselben Ort zurückkehrt.
Die Gegenwart der Vergangenheit; wie die Gegenwart die Vergangenheit überdeckt; das Verschwinden der Erinnerung und dessen, was Erinnerung ermöglicht; die Wahrnehmung der Gegenwart durch gegenwärtige Bilder von der Vergangenheit; die Wahrnehmung der Vergangenheit durch Bilder von dieser Vergangenheit in der Gegenwart; - dies ist das immer wiederkehrende Thema der gesammelten, seit 1988 zumeist in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Feuilletons des Medien- und Literaturwissenschaftlers Hanno Loewy.
Die Essays gehören ins literarische Genre, deswegen fehlen wohltuend die üblichen Zitate aus Adornos Erziehung zur Mündigkeit. Loewy demonstriert nicht Belesenheit oder Gelehrsamkeit. Er bleibt in den Texten zumeist unsichtbar; auch wenn er sie durch seine Beobachtung strukturiert, auch wenn er persönlich vorkommt. Daneben finden sich in anderen Betrachtungen in zumeist kurzen und schlichten Sätzen kluge und präzise Beobachtungen, Miniaturen u.a. über Cafés, Menschen in der Öffentlichkeit, Büffets, die Barbie-Puppe.
Die Vergangenheit und der Umgang mit ihr ist bei Loewy in diesen Alltag eingelassen. Ein Freund erzählt auf nächtlicher Autofahrt seine Geschichte der Verfolgung, neue Hakenkreuze und SS-Runen auf Wänden, der Führerbunker kommt ans Tageslicht, eine in die USA vertriebene jüdische Familie investiert wieder in Frankfurt/M; - so kommt die Vergangenheit wieder in der Gegenwart an und hervor. Auch wird Gegenwart immer wieder durchsichtig auf ihre Vergangenheit hin. Auf der Fahrt durch Polen erinnern die Ortsnamen an Gettos und Deportationsumschlagpunkte; die Originalnamen werden vom historisch Bewanderten automatisch durch die bekannteren deutschen ersetzt, mit denen historische Bilder assoziiert sind.
Welchen Zugang hat man zur Vergangenheit und wodurch? Bestimmend sind die Bilder, die jede/r im Kopf hat, angeschaute und memorisierte, wie die durch Reflexion selbst erstellten. „Das Tor“ von Auschwitz I, so bemerkt Loewy, „ist viel kleiner“ als man es von den bekannten Bildern her vermutet hätte. Wie kommt das? „Die meisten fotografieren es aus der Untersicht. Dann sieht es größer aus.“ Das kommt nicht von ungefähr. „Ein Tor, durch das so viele hindurch gehen mußten, muß groß sein.“ Die Bedeutung, die ein Bild von etwas haben soll, bestimmt die Darstellung und die Wahrnehmung des Abgebildeten mit. Dies nicht unbedingt zum Besseren. „Das Tor und seine Inschrift hat sich wie ein Filter vor alle Bilder geschoben. Ja sogar vor die Erinnerungen. Überlebende von Birkenau“, von Auschwitz II, die nie durch dieses Tor gegangen sein konnten, „glauben schon, sie hätten es selbst gesehen“ (94).
Wie geht man mit der Vergangenheit und ihren Übrigbleibseln um? Dient ein jüdischer Friedhof wieder seiner ursprünglichen Bestimmung: der Beerdigung Toter, so geht seine Vergangenheit verloren, denn bei dem Friedhof handelt es sich um den eines ehemaligen Gettos. Sie wird nicht nur vom Leben, resp. Sterben, das weitergeht, nicht nur von indifferenten Zeitläuften und Witterung überdeckt oder aufgelöst wie der Zaun der Gedenkstätte Auschwitz, sondern auch von Versuchen der Erinnerung. Auch die Museumsführer in Auschwitz „geben sich Mühe, den Text, den sie herunter sprechen müssen, nicht gänzlich zur Routine werden zu lassen“ (102).
Das Schild einer Stiftung zur Erhaltung des Getto-Friedhofes steht dort „wie das Zeichen einer Okkupation“ (15). Besetzen, das tut v.a. das offizielle, staatliche Gedenken. Der Staat Polen gedenkt in Auschwitz vorzugsweise an einer Erschießungswand, denn „hier wird des Kampfes gedacht, hier ist die Katastrophe noch ‚in Ordnung’, hier starb man einen Heldentod. ... Mit der Erinnerung an die Massenvernichtung hat das Gedenken hier nicht so viel zu tun. Aber viel mit unseren Wünschen, wie die Geschichte sein sollte“ (97). Dasselbe gilt für die Gedenkstätten in Dachau und Buchenwald.
Der Einzelne im Museum Auschwitz „muß sich vorbereiten auf das Erlebnis und auf die ‚Erinnerung’. Auf die Art und Weise, wie er den Toten begegnen soll, die er doch gar nicht findet. Wie er also der Leere standhalten soll, auf die er stößt, wenn er allein ist, wenn das Programm ihn für einen Moment aus seiner Ordnung entläßt.“ Deswegen bewehrt er sich mit Dingen, „mit denen man sich schützen kann, vor der Unsicherheit, vor dem Peinlichen, vor leeren Händen, mit denen man nicht wüßte, was zu tun ist.“ Blumen „sagen einem, was zu tun ist, an den Orten, wo man sonst betreten herumstehen würde. Die Kerzen erinnern an vertrautes Totengedenken, schaffen Vertraulichkeit mit den Opfern“ (104f.).
Ebenso ratlos steht Loewy vor den Versuchen, die Welt zu begreifen. Denn „die Begriffe haben sich erschöpft“ (69), „die Instrumente sind stumpf geworden“ (70). „So stehen wir einigermaßen ratlos vor den Trümmern und Leichenbergen, nicht nur der Anti-Utopien, sondern auch der Utopien“ (71). Das stimmt so nicht. Loewy, der kritische Kopf ohne kritische Gesellschaftstheorie, ist nicht ratlos genug, um nicht ausmachen zu können, wer wie womit woraus welchen Erinnerungs-Mehrwert schlägt. Im Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und die Debatte sieht Loewy das „Gründungsritual der neuen deutschen Republik“ (155). So wie die Nazis „in der Vernichtung der Juden den ein und für allemal vollzogenen und nicht hintergehbaren Reinigungs- und Einigungsakt der Deutschen“ sahen, so ist der Zweck des Denkmals schon erfüllt, denn „die Deutschen in Ost und West haben sich als Tätergemeinschaft konstituiert und zugleich aufs neue die Verantwortung dafür auf den Führer geschoben, der sie verführt habe.“ Wie immer der Diebstahl und die Besetzung der Erinnerung geschieht, sie wird für andere Zwecke benutzt, und die reimen sich alle auf Deutschland. „Ist es womöglich ganz gleich, ob man sich triumphal oder bußfertig, auftrumpfend oder zerknirscht an einem solchen Stiftungsritual beteiligt?“ (159).
Hanno Loewy: Taxi nach Auschwitz. Feuilletons. Berlin – Wien: Philo, 2002. ca. 180 Seiten, € 19,90