Fabian Kettner

Gudrun Ensslin: „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973

Die Schnittmenge von Problem und Lösung

Über einige Briefe der deutschen Jakobinerin Gudrun Ensslin

Der Berg von Publikationen zur bundesdeutschen Stadtguerilla wächst still vor sich hin, zumal in linken Kleinverlagen. Einst verbotene Texte werden wieder zugänglich, es erscheinen umfangreiche Interviews mit ehemaligen Terroristen, man kann an Erinnerungen früherer Aktivisten teilhaben usw. Ein Erkenntniswert ist häufig nicht zu sehen, weder in der Perspektive historischer Aufklärung noch in der politischer Analyse, aber man kann ein Publikum bedienen, das sich an bewegte Zeiten erinnern möchte. Die Herausgabe der Briefe Gudrun Ensslins, Mitglied der ersten Generation der RAF, vervollständigt die Textesammlung um ein weiteres unwichtiges Element, das in keiner ‚Geschichtsschreibung von unten’ wird fehlen dürfen.

Der Band enthält die Briefe Ensslins an ihre Schwester und an ihren Bruder, vom Juni 1972 bis November 1973, aus der Zeit unmittelbar nach ihrer zweiten Verhaftung. Teilweise waren Briefe von der Gefängnisleitung einbehalten worden und erst rund acht Jahre später freigegeben worden. Neben detaillierten Besorgungslisten von Kosmetika, Bücher, Kleidung und Nahrung (in dieser Reihenfolge) wird politisches Stroh gedroschen. Da Ensslin mit niemandem sonst korrespondieren durfte, agitiert sie ihre Geschwister. Diese freut das im Nachhinein, und so bewundern sie im Vorwort die „begriffliche Schärfe und Veranschaulichungskraft“ (7) der Briefe. Aber nicht im geringsten geht Ensslin „mit Geduld und Genauigkeit auf die politische Entwicklung ein“ (9), wie sie meinen, sondern wie damals schon Peter Brückner an den Texten der RAF, so kann man heute in den Briefen nur ein „sprudelndes Wortvarieté“, einen „förmlichen Amoklauf von Abstraktionen, Analogien, Verkürzungen und Extrapolationen“ (Brückner, 88) entdecken. Indem Ensslin sich wie die anderen Häftlinge „fest im marxistischen Denken“ (9) verankert habe, habe sie „die alltäglichen Erfahrungen mit Bedeutung“ aufladen können (8). Und das führt dann zu dem „pompös Unverständlichen, Ausgehöhlten, Unwahren“ (Brückner, 82), zu der bekannten Melange von moralisch aufgeheizter Alltagsbeobachtung, antiimperialistischem Großsprech, Klassenkampf-Jargon und verselbständigter theoretischer Phrase. Genau „das Atemlose, das Stakkato in ihren Briefen“ (9), das die Geschwister lobend bemerken und das laut ihnen in Verbindung mit „dieser genauen Benennung von Dingen“ eine besondere „Überzeugungskraft“ (8) evoziere, ist kein Mittel der Darstellung, sondern genaue Wiedergabe der hochgradig erregten Weltsicht der RAF, die mangels Besinnung gar nicht anders konnte, denn alle beliebigen „Schweinereien“ additiv zu verharken. „Die parallelisierende Aufzählung verknüpft eine Vielzahl von Bestimmungen – in einem agitatorischen Rhythmus – so miteinander, daß ein Eindruck von wirklicher Interdependenz [...] entsteht“ (Brückner, 91).

Der „Trennungsstrich“, den man ziehen solle, indem man Revolutionär wird, besteht nicht nur darin, militant für eine andere Gesellschaft zu kämpfen, sondern sollte dabei nicht zuletzt der Selbstfindung dienen. Weil man heutzutage „hoffnungslos eingewickelt und abgepackt in die Verhältnisse“ sei (89), so variiert Ensslin eine beliebte Lesart von Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein, deshalb müsse man sich bemühen, nicht mehr „Material des Kapitals“ (90), nicht mehr „Ware“, sondern „Mensch“ zu sein (137). Es gelte, nicht „auf der seite der [...] ‚schuldigen’ [zu] bleiben“ (108), weswegen man „eine Identität“ gegen „die Verdinglichung“ (136) zu schaffen habe. Und dies: die Identität, sei’s die eigene, sei’s zunächst die unterdrückter Völker und dann schließlich des eigenen Volkes, das wurde dann ja auch eines der Lieblingsthemen der radikalen Linken und ihrer Mutationen.

Auch wenn Ensslin hier den nach eigener Logik exekutierten Niedergang der deutschen Linken in zunächst Lebensphilosophie und dann Spiritualismus und ihre Wiederauferstehung in sei’s kultureller, sei’s nationaler Identität vorwegnahm, und auch wenn sie sich gegen die Rezeption Marxens in der akademischen Linken ausspricht und sich mehrmals vom Marxismus-Leninismus distanziert, so war sie in Sachen Theorie mit beiden einig. Marx habe das „Gesetz der Dialektik“ (30), also „die treibende Kraft der Geschichte“ (64) entdeckt, sowie die Tatsache, dass das „Sein das Bewußtsein“ bestimme (59). Und danach habe man sich zu richten. Souverän beruft sie sich auf die „Gesetze der Geschichte“ (61), sortiert die bürgerliche Gesellschaft nach „Basis und Überbau“ (74) und findet am Grund von allem den „Hauptwiderspruch“ von „Lohnarbeit und Kapital“ (57). Selbstverständlich, dass für sie der Antisemitismus nur eine „innerstaatliche Feinderklärung“ unter vielen anderen ist (139); zu erwarten, dass die Judenvernichtung für sie nur der „deutlichste Ausdruck“ des Kapitalismus ist (87).

Wie Harald Welzer gezeigt hat, ist die Erfolgsgeschichte der 68er, sie hätten ihren Eltern unbequeme Fragen nach deren NS-Vergangenheit gestellt, ein gut gepflegter Mythos, mit dem sich trefflich ein hoher moralischer Kredit aufnehmen ließ, mit dem sie nun – aus besonderer deutscher Verantwortung – deutsche Kriegspolitik legitimieren können. Dieser Mythos ist in zweierlei Hinsicht unwahr. Zum einen mussten sie nicht erst fragen, denn die Tätergeneration erzählte von alleine, gerne und oft. Es gab kein beschwiegenes Tabu. Zum zweiten haben die 68er nicht gefragt, und wenn es ihnen erzählt wurde, haben sie nicht hingehört. Mit diesem Mythos aber können die 68er ihr eigenes Ausweichen vor dem Nationalsozialismus - und v.a. vor der Shoah – schönreden. Zum einen können sie sich selbst als Rebellen darstellen. Zum anderen können sie ihre Eltern besser dastehen lassen, indem sie ihnen die Gestalt der verstockt Schweigenden verpassen, die zwar schuldig wurden, aber unter der Last der Vergangenheit verstummen. Denn die Täter-Generation schämte sich ja nicht. Sie wusste nur, dass sie ein Schauspiel von Scham & Schuld aufzuführen hatte, der internationalen Reputation Deutschlands wegen. Und dass sie das mussten, das haben sie dem Ausland – und v.a. Israel - nie verziehen. An der RAF zeigt sich die beredte, lautstarke Ahnungslosigkeit dem Nationalsozialismus gegenüber (vom Antisemitismus ganz zu schweigen), welcher laut Eigenaussage einer der Schocks gewesen sein soll, der ihr Engagement auslöste. Indem sie von Nationalsozialismus und Antisemitismus keine Ahnung hatten, zeigt sich, wie wenig sie vom Kapitalismus im Allgemeinen, von Deutschland im Besonderen wussten.

GUDRUN ENSSLIN: „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972-1973.
Hgg.v. Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin.
Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2005
198 Seiten, Euro 15,00
ISBN 3-8945-239-1

Literatur:

Peter Brückner & Barbara Sichtermann: Die Verknastung der sozialen Welt. Versuche über die RAF. In: Peter Brückner: Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zur Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme. Berlin: Wagenbach, 1979. S. 67-109
Harald Welzer: Der Mythos von der unbewältigten Vergangenheit. Über ein Interpretament der Zeitzeugenforschung zum Nationalsozialismus. In: Ders.: Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Tübingen: edition diskord, 1997. S. 49-68