Fabian Kettner
Gerhard Henschel: Die Liebenden
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
„Roman“ steht auf der Titelseite, dabei ist es keiner im üblichen Sinne. „Die Liebenden“ ist eine Sammlung von hauptsächlich privaten Briefen, aber auch Bewerbungsschreiben, Lebensläufen, Zeugnissen, Bescheinigungen usf. aus fünf Jahrzehnten. Es beginnt mit der Feldpost der Familie Lüttjes an Vater Gepke, wenig später kommt die Korrespondenz der Familie Schlosser hinzu. Die Tochter der ersteren: Ingeborg, und der Sohn der letzteren: Richard, schreiben sich ab November 1950; sie sind „die Liebenden“, die später heiraten und eine Familie mit vier Kindern gründen. Richard und Ingeborg bleben nicht die Liebenden, nach Aufbau, Wirtschaftswunder und Familienklammer durch die Kinder stehen sie vor einem Leben, die sie selber als gescheitert und vertan bezeichnen.
Eines der Kinder, Martin Schlosser, mag Gerhard Henschel sein. Die Briefe sollen echt sein, nur bearbeitet. Wer Langsamkeit erleben will, ungeheure Kleinschrittigkeit, Erörterungen über Pfennig- und D-Mark-Beträge, Ausgaben und Wochenplanungen, der mag sich durch die über 700 Seiten lesen; aber auch wer sich nicht schnell langweilt, läuft Gefahr, hier die Geduld zu verlieren. Ein Mikrohistoriker, ein Alltagsforscher mag hier reichhaltiges Material für eine Geschichte des unteren Mittelstandes von Beginn der Bundesrepublik bis heute finden; im Vergleich zu „Die Liebenden“ ist eine daily soap im Zeitraffer gefilmt.
Gerhard Henschel, der in seinen Satiren früher öfter, dann aber immer seltener den richtigen Punkt traf, und der von Kritik so wenig Ahnung hat wie sein Kollege, der Gesprächspartner der Jungen Freiheit, Eckhard-wenn-das-schon-Antisemitismus
– ist-dann-bin-ich-auch-Antisemit-Henscheid, hat sein schriftstellerisches Verfahren hier zu Ende gebracht. Bereits früher war seine Position wackelig. In „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“ (Edition Tiamat, 1994) traf er, wie Eckhard Henscheid in den 1980ern, wenigstens noch die Richtigen: Linke, die keine Linken sind, sondern inquisitorische Moralisten, unschuldig Verfolgende, Sprachrohre eines verselbständigten Jargons, Menschen ohne Reflexion und Vernunft, verkappte Deutsche und die dafür kritisiert gehören. Zufällig traf er die richtigen, so muss man inzwischen sagen; er wusste wohl nicht, was er tat, sonst könnte er sich in den Antisemitismus-Streits der Gegenwart intelligenter verhalten, in denen die Richtigen (Martin Walser, Jürgen W. Möllemann) zwar von den Falschen (Schirrmacher, Die Grünen/Bündnis 90), aber immerhin mit dem richtigen Vorwurf (Antisemitismus) angegriffen werden, wenngleich sie davon keine Ahnung haben.
Schon in „Menschlich viel Fieses. Stasis, Donalds, Dichter und Pastoren“ (Edition Tiamat, 1992) hatte Henschel einen Stil begründet, den er später ad nauseam perfektionierte: zu wiederholen, was Schwätzer so sagen. Das Falsche soll sich selber, aus sich selbst heraus, denunzieren. Henschel verdoppelt seitdem die Wirklichkeit und langweilte bspw. in der „Titanic“ mit Beiträgen aus dem Leben des „Wiener Wald“-Begründers Friedrich Jahn. Kritik, das sei hier gegen falsche Schlüsse festgehalten, hat, entgegen dem alten linken Glauben und dem Alltagsverstand, keinen Standpunkt außerhalb des Kritisierten. Sie verfährt immanent, bricht es von innen heraus auf, „nach ihrem eigenen Maß“ (Adorno), verändert und transzendiert es dabei. Sie kann, wie Marx es formulierte, dabei den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorsingen, um sie zum Tanzen zu bringen. Bei Gerhard Henschel verstummt sie, vielleicht aus Hilflosigkeit, und geht im Kritisierten auf. In „Die Liebenden“ findet sich nichtmals mehr der rhapsodierende Kommentar, nur noch Material, aber um den ist es auch nicht schade.
Gerhard Henschel: Die Liebenden. Hamburg: Hoffmann & Campe, 2002, ca. 750 Seiten, € 25,90