Christoph Hesse
Edward Dimendberg: Film Noir and the Spaces of Modernity
Edward Dimendberg: Film Noir and the Spaces of Modernity
„Der ursprüngliche gesellschaftliche Inhalt der Detektivgeschichte ist die Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge“, heißt es bei Walter Benjamin. Das „Röntgenbild“ dazu habe Edgar Allan Poe mit seinem Man of the Crowd geliefert. Glaubt man Raymond Chandler, hat es aber noch bald hundert Jahre gedauert, bis die Detektivgeschichte den zu jenem Röntgenbild passenden „umkleidenden Stoff“ gefunden hat, von dem Poe in seiner berühmten Erzählung ganz bewußt abstrahierte. Erst Dashiell Hammett, sagt Chandler, „zog den Mord aus der venezianischen Vase, in der er so lange gegrünt und geblüht hatte, und pflanzte ihn an die Straße“.
Ähnliches läßt sich über den Film noir sagen.
So wie Hammett und Chandler der modernen Kriminalliteratur in den Straßen von San Francisco und Los Angeles ein urbanes Outfit gaben, hat der Film noir die Ikonographie des Detektiv- und Kriminalfilms auch durch ein Bild der amerikanischen Großstadt geprägt, das Edward Dimendberg hier einmal genauer unter die Lupe nimmt. Siegfried Kracauer zufolge muß der Filmemacher im Buch der Natur zu lesen imstande sein. Dimendberg, hier als Film- und Architekturhistoriker im Einsatz, liest im Buch der Städte, als welches sich ihm der Film noir Seite für Seite aufschlägt. Die Kulisse aus Häuserblocks, Straßen und Plätzen formt sich unter seinen Augen zu einer Inschrift der Moderne, die über den Film noir ebensoviel verrät wie über die Geschichte der amerikanischen Metropolen im 20. Jahrhundert. Der Titel dieses Buches könnte, nach Irving Lerners Film, City of Fear lauten – eine Stadt, die allerdings beim Publikum inzwischen eher Wehmut als Angst hervorrufen dürfte. „In a world threatened by nuclear weapons, darkness no longer posed the most frightening prospect” (257), stellt Dimendberg schon für die sechziger Jahre fest. Unbehagen und Faszination der großen Städte, im amerikanischen Kino ein Komplementärmotiv zu den weiträumigen Landschaften und Horizonten des Wilden Westens, mögen sich auch weiterhin an alten Klischees, an naiven Glückserwartungen sowohl wie an den reaktionären Mythen vom Sündenbabel orientieren; der Gegenstand des Interesses hat sich unterdessen jedenfalls gründlich gewandelt. Philip Marlowes Los Angeles ist verschwunden und an dessen Stelle eine „new lifeworld of the automobile and the freeway, with ist poetics of distance, speed, pleasure, and technologically mediated solitude” (205) getreten.
Den Film noir als Stilphänomen und Stimmungsbild einer Epoche zu fassen, haben seit Nino Frank, der den Ausdruck in einem Aufsatz in L’Écran Français 1946 eingeführt hatte, etliche unternommen. So oft man sich dabei um die literarischen Vorlagen, den photographischen Realismus der Orte und Figuren, das expressionistische Spiel von Licht und Schatten oder die subversive Kraft dieser Filme im Kontext der damaligen Hollywoodproduktion gekümmert habe, meint Dimendberg, so oft sei die Repräsentation des städtischen Raums bisher vernachlässigt worden. Den Beweis, daß es sich hier keineswegs nur um eine ausgesuchte Spitzfindigkeit für Spezialisten handelt, tritt er selbst eindrucksvoll an. Den Film noir charakterisiert er „as an instance of late modernism, a cinematic practice thoroughly industrial yet finely attuned to both the realities of earlier modernisms and the post-1939 built environment and media culture.“ (17) Über die Repräsentation des Raums, so Dimendberg, können diese Filme auf neue Weise systematisch erschlossen werden. Raum begreift er im doppelten Sinn als Verfahren der Fragmentierung, durch das Raumerfahrungen filmisch konstruiert werden, sowie als Ansicht bestimmter Räume und namentlich bekannter Orte, die als Chiffren einer epochespezifischen kulturellen Ausprägung der Stadt gelesen werden können.
Für Dimendberg ist der Film noir kein Genre, sondern eine mehr oder weniger lose Gruppe von Hollywood-Kriminalfilmen, die einer ganz bestimmten Epoche angehören, welche mit Blick auf die Architektur der amerikanischen Großstadt schlagwortartig als Umbruchprozeß einer zentripetalen hin zu einer zentrifugalen Ordnung beschrieben werden kann. Aufschlußreich ist auch die Art und Weise, in der er den „film noir cycle” zeitlich markiert: „Commencing in 1939, the year of the New York World’s Fair, the completion of Rockefeller Center, Ralph Steiner and Willard van Dyke’s The City, and the publication of The Big Sleep by Raymond Chandler, the time frame of this book concludes in 1959, the year of the Nixon-Khrushchev kitchen debate in a model suburban home, Robert Wise’s Odds against Tomorrow, Irving Lerner’s posturban City of Fear, and the death of Raymond Chandler.” (19) Diese auf den ersten Blick willkürliche Aneinanderreihung von Ereignissen wird in den nachfolgenden Kapiteln, wie in einer Detektivgeschichte, zu einem schlüssigen Bild des Ganzen geformt, worin die Entwicklung des Film noir und die sich verändernde amerikanische Großstadtarchitektur ineinandergreifen. An zahlreichen Beispielen zeigt Dimendberg im einzelnen, wie signifikante Wandlungen im Erscheinungsbild der Stadt und damit einhergehende soziale und kulturelle Bedeutungsverschiebungen in den Filmen verschiedentlich reflektiert werden.
Hervorgehoben sei hier nur die Episode um Stanley Kubricks Killer’s Kiss (Der Tiger von New York, 1955) und den Abriß der alten Pennsylvania Station in Manhattan. Wie diese sind seitdem etliche Gebäudekomplexe und ganze Viertel einer Neuausrichtung der Großstadtarchitektur zum Opfer gefallen. Kubricks Film gibt einige Hinweise, warum Frank Sinatra später von „old New York“ gesungen hat. Wer sich, durch Dimendbergs Analyse sensibilisiert, den Film noch einmal anschaut, wird nicht nur einen irritierten Blick auf eine auch für den Ortskundigen fremde Stadt werfen, sondern vielleicht sogar die Räumlichkeiten als heimlichen Hauptdarsteller erkennen und das Durchqueren der Räume für die zentrale Handlungslinie des Films halten. „Killer’s Kiss presents a veritable catalogue of places for mingling, strolling, waiting, and watching in the New York City of the 1950s.” (136)
So wie Baudelaire von Benjamin als Zeuge des Hochkapitalismus aufgerufen wird, als Flaneur in den Pariser Passagen des mittleren 19. Jahrhunderts, die selbst bald einer neuen Ordnung Platz machen, kann Dimendberg den typischen Protagonisten des Film noir als Flaneur der modernen amerikanischen Großstadt vorführen. So wie am Beginn der städtischen Moderne der Dichter durch die Menge flaniert, erkundet der Film-noir-Detektiv das Ende dieser Epoche. Den Herausforderungen der postmodernen Metropole ist er offenbar nicht mehr gewachsen. Die von Lewis Mumford 1948 beobachtete „architecture of the Police State, embodying all the vices of regimentation one associates with state control at its unimaginative worst” (zit. n. Dimendberg, 17), hat darum an Aktualität nichts verloren. Jedoch hat eine solche Kontrollgesellschaft, wie man sie heute nennen würde, nur noch wenig mit zentripetaler Ordnung, dafür um so mehr mit der Departementalisierung von Räumen und deren medialer Überwachung zu tun.
Wenn es zutrifft, wie Benjamin irgendwo bemerkt, daß die Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse umgekehrt zu der von Gegenständen im Raum verläuft, kann man nach der Lektüre dieses Buches für den Film noir hinzusetzen, daß das selbst für die Wahrnehmung des Raums gilt, dessen filmische Repräsentationen durch die größere zeitliche Distanz desto bedeutsamer erscheinen. Edward Dimendbergs Film Noir and the Spaces of Modernity kommt insofern vielleicht genau zum richtigen Zeitpunkt, nämlich viel zu spät.
Edward Dimendberg: Film Noir and the Spaces of Modernity. Cambridge/Mass. und London: Harvard University Press 2004, 327 S., £ 16.95
(erschienen in: Medienwissenschaft 2/05)