Christoph Hesse
Der Untergang. Regie: Oliver Hirschbiegel
Tragedy of Errors
Der Untergang
Wenn es stimmt, daß Filme „Tagträume der Gesellschaft“ sind, wie Siegfried Kracauer meinte, stellt sich die Frage, welcher Traum gerade die Deutschen umtreibt, daß sie scharenweise in die Kinos rennen, um sich ihren Untergang anzuschauen. Die naheliegende Antwort ist: sie wollen Hitler in der Hauptrolle sehen, was es im deutschen Kino seit 1945 nicht mehr gegeben hat (anders übrigens als im österreichischen, wo G.W. Pabst schon 1955 die letzten Tage im Führerbunker in seinem Film Der letzte Akt geschildert hatte). Eine andere mögliche Antwort könnte lauten, daß Untergänge hierzulande gar nicht als Desaster wahrgenommen, sondern, wie Revolutionen in anderen Ländern, vielleicht sogar als Motor der eigenen Geschichte insgeheim bewundert werden. Obszön wäre demnach nicht so sehr der von Kritikern monierte Titel des Films, sondern die Tatsache, daß Untergänge, wie Wolfgang Pohrt erkannte, in Deutschland stets wie Frischzellenkuren wirken, aus denen die Nation aufs neue gestärkt hervorgeht.
Ein Faible fürs Unheimliche und Irrationale hat man dem deutschen Kino schon früher nachgesagt. Das Cabinet des Dr. Caligari, der erste deutsche Film von Weltruhm aus dem Jahr 1919, lief in Sowjetrußland unter dem Titel Der Alptraum eines Wahnsinnigen. Der Untergang ist jedoch nichts weniger als das. Mit faustischem Hokuspokus hat der Film nichts zu tun. Gelungen ist Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel damit vielmehr das Gegenstück zu Leni Riefenstahls Triumph des Willens von 1935: dieser gleichsam die „Massenpsychologie“, jener die „Ich-Analyse“. Der Führer thront nicht mehr über einer wie in Stahlblöcke gegossenen Masse, sondern sitzt zerknirscht im Bunker in Berlin, umgeben nur von seinen engsten Freunden und Vertrauten, während draußen die Welt in Scherben fällt. „Die von einem Tag zum andern anberaumte Rettung des Vaterlandes trug den Ausdruck der Katastrophe vom ersten Augenblick an“, schrieb damals Adorno. Die „begeisterte Prophetie des eigenen Untergangs“, die bei Riefenstahl mit Trommeln und Standarten zelebriert wird, kommt bei Eichinger und Hirschbiegel zur Erfüllung. Beide Filme hätte man sehr gut auch als Double feature in den Kinos präsentieren können. Während allerdings Riefenstahls Film einstweilen noch auf dem Index steht, hat jenes andere „Meisterwerk“ (Frank Schirrmacher, FAZ) die Kino-Charts und längst die Herzen der Deutschen erobert. Allein das von den Nazis als „verjudet“ beschimpfte Hollywood besann sich kurzfristig eines Besseren und verweigerte dem Film die Auszeichnung.
Spielfilme über den Nationalsozialismus – selbst die, die man vorsichtig als gelungen bezeichnen darf – geben allemal Grund zum Mißtrauen.
Daß die Begeisterung für Bösewichter im Film mindestens ebenso groß ist wie das Verlangen nach strahlenden Helden (denn in beide kann sich der Zuschauer mühelos einfühlen), kann die besondere Faszination für Nazis auf der Kinoleinwand kaum hinreichend erklären. So sorgfältig es zumindest das westdeutsche Kino noch in den fünfziger Jahren vermieden hat, die mehrheitlich gerade erst aus den NS-Kampfverbänden Ausgetretenen im Publikum mit ihresgleichen zu konfrontieren, so penetrant erscheinen einem heute die Versuche deutscher Filmemacher, den Nationalsozialismus im Film spielerisch zu bewältigen. Auch hier will man offenbar das Feld nicht den einstigen Gegnern allein überlassen. Beliebter als quälende Dramen über die Not der Opfer und selbst als Rührstücke über den deutschen Widerstand ist dabei nach wie vor das Objekt des Widerstands selbst. Ob als siegeszuversichtlicher Führer oder als geschlagener Mann vor einem Trümmerhaufen: aus beiden Rollen geht der Stardiktator als Publikumssieger hervor.
Der Untergang wagt sich so nahe an die Figur heran, daß er alle bisherigen Hitler-Karikaturen, vorzugsweise des amerikanischen Kinos, gleichsam für ungültig erklärt und erstmals einen bemüht authentischen Hitler in seinem Element vorführt. „Perhaps the most uncomfortable taboo that Downfall breaks”, schrieb ein Kritiker im Guardian anläßlich des Kinostarts in Großbritannien Anfang April, „is having Hitler played with gusto by a German-speaking actor (…). In the Anglophone world there seems to be a convention, perhaps born of fastidiousness and a victor’s gallantry, that Hitler is best played by a classically trained Brit.” Mit diesem Mißverständnis hat Bruno Ganz ein für allemal aufgeräumt. Seit die Deutschen inzwischen zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs gerechnet werden müssen, haben sie auch das Patent auf Adenoid Hynkel zurückerobert, über den zu lachen fortan bei Strafe des Untergangs untersagt ist. Obwohl es zum Lachen einigen Anlaß gäbe: denn tatsächlich klingt Chaplins Kauderwelsch nur unwesentlich komischer als das Gebrabbel von Bruno Ganz, der sich in der Rolle Hitlers ungefähr so furchtbar anhört wie das Seeungeheuer aus Urmel aus dem Eis, wie Harald Welzer in der Frankfurter Rundschau feststellte.
Die letzten Tage eines dekadenten Herrschers sind ein beliebtes Thema in der Filmgeschichte. Untergänge, ob von Passagierschiffen oder Königreichen, haben oft genug ein Publikum fasziniert, das den Vorführsaal anschließend lebend verlassen konnte. Geschichten dieser Art funktionieren aber stets nur unter der Voraussetzung, daß der Untergang als mehr oder weniger tragischer Fall präsentiert und als solcher auch empfunden wird. Nichts darf unverschuldet zugrunde gehen, doch wäre andererseits der Untergang für den Zuschauer kein besonders aufregendes Erlebnis, wenn er dem entstandenen Verlust nicht wenigstens gemischte Gefühle entgegenbrächte. Wer sich zum Beispiel The Fall of the Roman Empire von Anthony Mann anschaut – Hollywoodkino aus den sechziger Jahren im Stil des italienischen Monumentalfilms –, wird niemals auf die Idee kommen, das Römische Imperium als Verbrechen gegen die Menschheit anzusehen, sondern im Gegenteil Größe und Glanz des Reiches bestaunen, das nur leider in diesem Augenblick gerade von einem korrupten Kaiser zugrunde gerichtet wird. Daß man von Größe und Glanz des Tausendjährigen Reiches der Nazis lieber nicht allzuviel Aufhebens machen sollte, ist Eichinger und Hirschbiegel natürlich sehr bewußt. Der Untergang ist darum kein schlillernder Monumentalfilm mit Sophia Loren als des Führers Sekretärin, sondern ein verschrobenes Kammerspiel. Als solches verzichtet der Film auf jeden Prunk, ermöglicht es dem Zuschauer jedoch gerade durch die Abgeschlossenheit der Szenerie (und die Abwesenheit von Vernichtungskrieg und Massenmord), den geschilderten Untergang als solchen zu empfinden, nämlich als Befreiung von einem offenkundig verrückt gewordenen Despoten und als Verlust: vordergründig als Verlust einiger Figuren und Orte, vielleicht der unschuldigen Goebbelskinder oder der von den Alliierten zermalmten Reichshauptstadt, tatsächlich aber als Verlust der nationalen Identität, die zumindest das deutsche Publikum an diesem Untergang am allermeisten schmerzen dürfte. Damit evoziert der Film genau jene Gefühle, von denen wohl die Mehrheit der Landsleute am 8. Mai 1945 ergriffen war. Einer wie Helmut Kohl hatte also allen Grund, sich in seiner Laudatio persönlich beim Produzenten und dessen Filmteam zu bedanken.
Ob Anthony Manns Film irgendwelche historisch relevanten Umstände ans Licht bringt, die den Untergang des Römisches Imperiums erklären helfen, sollen Altertumsforscher beurteilen. Die letzten Stunden im Führerbunker sind jedenfalls nicht dazu angetan, zwölf Jahre Naziherrschaft wie durch ein Prisma einzufangen und die angebliche Tragödie in ihrer ganzen Breite widerzuspiegeln, wie Bernd Eichinger versicherte, sondern für eine Beurteilung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen vollkommen irrelevant. Daß Adolf Hitler in diesem Film „vermenschlicht“ wird, worauf Kritiker auch in Deutschland hingewiesen haben, ist selber noch das geringste. Unappetitlicher, bemerkte A.O. Scott in der New York Times, ist „the self-conscious intimacy of a behind-the-scenes celebrity portrait.” Für den Führer privat haben deutsche Journalisten, Fernsehhistoriker und Filmemacher eine ganz besondere Leidenschaft. Die Entzauberung der in etlichen Spielfilmen reproduzierten Ikone, die Eichinger und Hirschbiegel bestenfalls damit beabsichtigt haben, endet in ihrem „Führerbunker-Drama“ (Der Spiegel) erwartungsgemäß im Familienkrach. Man fühlt sich ein bißchen wie bei den Osbournes. Für den ungehorsamen Sohn sorgt in diesem Fall der SS-Arzt Ernst-Günther Schenck (Christian Berkel), der sich in Anbetracht der Tatsache, daß die Rote Armee ein paar Blocks entfernt steht, mutig zum Widerstand gegen seinen praktisch bereits zum Tode verurteilten Führer entschließt. Es sei schließlich beeindruckender, meinte Drehbuchautor Joachim Fest, wenn ein Mittäter im letzten Augenblick die Seite wechsle, als wenn einer sich von vornherein als Antifaschist betätige. Geschichten über die Gewissensnöte plötzlich nachdenklich gewordener Nazis haben selbst die christlichen Antifaschisten in der Gunst des heimischen Publikums immer schon übertroffen. Populärer als Sophie Scholl sind die „stormtrooper superstars“, die ein englischer Kommentator treffend als heimliche Hauptdarsteller des Films erkannte: „It is not the alleged humanising of Hitler that is contentious, it is the lionising of the SS, who remain brave, unbending and beautifully dressed as Berlin disintegrates around them.”
In der Stilisierung solcher scheinbaren Nebenfiguren wird die ramponierte nationale Identität als moralisch geläuterte wiederhergestellt. Maßgeblich ist letztendlich nicht das weinerliche Gekeife Adolf Hitlers, um dessentwillen zweifellos die meisten Zuschauer herbeigeeilt sind, sondern der aufrechte Gang der andern, die bereits darauf lauern, angesichts des bevorstehenden Untergangs von Reich und Führer wenigstens die Ehre des Volkes zu retten. Das kann am Ende, wie die Ladenmädchen bei Kracauer, erleichtert nach Hause gehen. „Die kleinen Ladenmädchen hatten sich geängstigt. Nun atmen sie auf.“