Fabian Kettner
Das Wunder von Bern, Regie: Sönke Wortmann
Ein Rattenfänger bei der Arbeit
„Die Massen kommen im Stadion zu ihrem Ausdruck, nicht zu ihrem Recht.“
Ingo Elbe, nach Walter Benjamin
Der Kanzler weinte, so wurde überall verlautbart, als er in einer Preview Das Wunder von Bern sah. Der Kanzler, der ein Porträt seines feldgrauen Vaters und damit auch ein Hakenkreuz auf seinem Berliner Arbeitsschreibtisch stehen hat, - worüber weinte er?
„Nix is mehr wie et war“, vertraut der Vater dem Pfarrer an. Der Vater kam nach langer Kriegsgefangenschaft aus der Sowjetunion zurück. Sein ältester Sohn muss schizophren sein: hängt Plakate für die KPD auf und spielt für GIs moderne Musik in einer „Band“ (was das gleiche bedeutet wie „Musikgruppe“, wie er seinem kleinen Bruder erklärt, aber „viel cooler“ klingt); seine Tochter tanzt dazu, „aufgetakelt“, mit den Besatzern; seine Frau ist ökonomisch selbständig mit einer Gastwirtschaft; sein Jüngster, die Hauptfigur, suchte seinen Ersatzvater in Helmut Rahn, der bei Rot-Weiß Essen und in der Nationalmannschaft spielt und dem er die Tasche tragen darf. Nun bekommt der Vater nicht volle Entschädigung vom Staat und die Familie ist entzwei. Wenn die Deutschen „den Nazis“, die sie alle nicht gewesen seien, etwas nicht verzeihen werden, dann dass diese das Gegenteil von dem erreichten, was sie versprochen hatten.
Weil es auch heute nicht mehr ist, wie es mal war, dreht Sönke Wortmann modernisierte Heimatfilme. Alle kehren heim, der Vater von Russland ins Ruhrgebiet und der Sönke, den Arglose eine Zeit lang für einen guten und „frechen“ Regisseur hielten, in die Nation. In den 1950ern, da war es zwar arm, aber eben auch noch einfach, ehrlich und geradeheraus, da war das Leinen noch weiß und fest, da konnte ein Fußballtrainer noch mehr Liegestütze als seine Spieler, da gab es noch richtige Vater-Sohn-Konflikte, nach Georg Seeßlen also die „faschistische Ur-Situation“. In den 1950ern, da ist man nahe dran an den schlimmen zwölf Jahren, die so locken. Und wenn man die schon nicht direkt verherrlichen darf, dann geht man zeitlich dahin, wo es wenigstens noch ganz ähnlich aussah: die Radioreporterstimmen klingen nach „Der Führer spricht“, die Frisuren sehen aus wie länger nicht bei der HJ-Schur gewesen, die Farben auf Land und Leuten sind alle Rot, Braun und Schwarz, die Patina angesetzt haben. Was war, ist noch, im Wartestand.
„Damals war Deutschland moralisch geächtet. Zu Recht, natürlich“, gesteht der Regisseur ein. Damals, so bekennt er, „in meiner linksradikalen Zeit“, also als er nur ein invertierter Deutscher in linker Maskerade war, da habe er sich mit seinem Vater „aufs Blut gefetzt, weil ich ihm persönlich den Zweiten Weltkrieg in die Schuhe geschoben habe – zu Unrecht natürlich.“ Dafür lässt er ex post seinen Vater im Film zu Wort kommen und von der Gefangenschaft erzählen, was man nach Meinung der Deutschen über fünfzig Jahre lang nicht durfte. Seine Jugendsünden lässt Wortmann durch den ältesten Sohn sprechen, der kein Mitleid mit dem Vater hat und aufbegehrt. Was er inzwischen besser weiß, lässt er die Mutter zu ihrem Jüngsten sagen: „Wir können alle nix dafür. Wir können nur helfen, dass es besser wird.“ Und das wurde „es“ dann ja auch, zumindest für Deutschland, denn dann, so Wortmann (Gegenwart), „ging dieser sportliche Sieg wie ein Ruck durchs Land, die Menschen fassten neuen Lebensmut.“
Dabei sieht es zunächst schlecht aus für „uns“. Ein Zuschauer in der Wirtschaft der Mutter wird miesepetrig und begeht glatte Wehrkraftzersetzung: „Wir haben den Krieg verloren. Wir verlieren auch dieses Endspiel.“ Dann gewinnen „wir“ aber doch; haben „wir“, im Umkehrschluss, nun auch den Krieg gewonnen, irgendwie wenigstens? Wenn Sepp Herberger, der ideelle Gesamtvater, der gestrenge Alte, der Presse „Wir haben eine Schlacht verloren, nicht den Krieg“ verkündet, dann klingt das wie eine Drohung. Geht es doch noch weiter? Es sieht so aus, als wären „wir“ am Boden? „Sie wissen nicht, wie stark wir wirklich sind“ (Herberger). Das Schlummernde muss erwachen, und Wortmanns Film zeigt, wozu das gut ist: wenn die Deutschen zusammenstehen und wollen, dann sind sie unbesiegbar. Den „Ruck“, den Wortmann von Roman Herzog hat, stellt jener immer wieder da. In der zweiten Halbzeit wendet sich das Blatt. Die Zuschauer brüllen „Deutschland vor!“, Mythos wird inszeniert, der Regisseur lässt die Pauken Entschlossenheit und „Jetzt aber!“ verkünden – und „wir“ gewinnen.
Am Fußball lässt sich das Mysterium der Identität des Verschiedenen nachvollziehen. Fußball entzweit und er führt zusammen: Sportreporter Ackermann und seine verwöhnte aber „patente“ Frau aus dem Adel, Vater & Sohn, die entzweite Familie, die streitenden Spieler der Nationalelf, die Nation. Der Film hat die Aufgabe, die nationale Einheit ästhetisch herbeizuführen, und die Schnitte auf die Menschen, die der Übertragung des Finalspiels lauschen, lassen keinen aus: alle Typen, alle Geschlechter, alle Berufe, alle Konfessionen, alle Klassen, alle politischen Gesinnungen. Wortmann hat ein Nationalepos geschaffen. Die Einwände kennt er vorher schon, er war ja selber mal so: „Warum soll man Dinge wie Nationalstolz, mit denen die Franzosen oder Amis überhaupt keine Probleme haben, nur den rechten Rattenfängern überlassen?“ Braucht man auch nicht, wenn man einen Rattenfänger wie Sönke Wortmann hat.
Das Wunder von Bern, Regie: Sönke Wortmann, Deutschland 2003