Fabian Kettner
Barbara Kuchler: Was ist in der Soziologie aus der Dialektik geworden?
Wie ein Omelett ohne Eier
Über eine Suche nach der Dialektik am falschen Ort
Bekannt ist die Abneigung einer jeden Wissenschaft, die als reine und strenge auftreten will, gegen die Dialektik. Vielleicht kommt der Soziologie bei dieser Geringschätzung eine Sonderrolle zu, entstand sie doch einerseits zu einem nicht geringen Teil aus Elementen Hegelscher und Marxscher Theorie, andererseits aber bildete sie sich auch zur Abwehr marxistisch inspirierter Gesellschaftskritik, die sie bis heute immer wieder – wenn dies überhaupt noch nötig ist – in interessenlose Katalogisierungen sozialer Phänomene transformiert.
Barbara Kuchler zeigt in drei Kapiteln die „tiefsitzende und vermutlich unabschaffbare Inkompatibilität zwischen dialektischer und soziologischer Theorieperspektive“ (105). Dann möchte sie abwägen, ob diese berechtigt ist und Perspektiven für eine Überwindung der „Kommunikationshindernisse“ (112) aufzeigen. Als Vertreter dialektischer Theoriemodelle führt sie v.a. Hegel, Marx und Adorno, aber merkwürdigerweise auch Sartre und Ulrich Beck an.
Zu Hegel und Marx bietet sie eine stark traditionalistische Lesart: Marx’ „materialistische Wende“ habe Hegels Geist „als Phantasieprodukt“ entlarvt, habe dessen „Schimäre“ „auf eine ‚wirkliche’, nachweisbare Ebene von Realität“ reduziert (29). Wie schafft man es, eine Studie über Dialektik zu verfassen, die „nicht selbst dialektisch, sondern eine Untersuchung über Dialektik“ (7) ist? Gar nicht, und so werden hier reiner DiaMat und HistoMat wiederbelebt; das Elend des orthodoxen Marxismus überlebt bei Marx’ Kritikern am längsten. Man weiß nie, ob man Literaturverzeichnissen trauen darf, aber das Kuchlers ist ehrlich und bescheiden: keine Hegel-Forschung, Heinz Röttges oder Werner Marx sowenig wie den akademischen Mainstream von Theunissen, Bubner, Fulda et al., gibt es da, die die gröbsten Fehler und dürftigsten Allgemeinplätze hätten ausräumen können; keine neue Marx-Lektüre, sowenig wie deren Schüler, von denen doch sogar einer der besten, nämlich Michael Heinrich, im selben Verlag publizierte wie Kuchler.
Und so schätzt sie an Marx ausgerechnet die immer wieder gern unterstellte lineare Geschichtsphilosophie von der Sklavenhaltergesellschaft über Feudalismus und bürgerliche Gesellschaft hin zum Sozialismus (4. Kapitel). Ausgerechnet hiervon soll die Soziologie, die sich mit dem Phänomen von Veränderung und Entwicklung schwer tut, etwas lernen können. Aber ist hier Dialektik dann nicht nur ein Begriffskosmetikum, das das Fehlende, nämlich den fehlenden Vermittlungsschritt, übermalt?
Uns so sind für sie bspw. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts „in Wahrheit“ eine rudimentäre „Theorie sozialer Differenzierung“ (23), die zwar noch „in ein idealistisches Begriffsgerüst“ eingefügt (27), in der Fortführung über Marx und Adorno erfreulicherweise immer mehr an die Soziologie angenähert worden sei (2. Kapitel). Aber auch wenn Marx „ein Kandidat für den Titel des ersten Soziologen“ (29), gar der „erste Wissenssoziologe“ (102) sei, der einen „innovativen Beitrag zur Entwicklung der dialektischen Sozialtheorie“ (89) geleistet habe, so müsse die Dialektik weiterhin ermutigt werden, ein „soziologisch akzeptables Verständnis von Sozialität zu erarbeiten“ (116). Um soziologisch interessant zu werden, müsste die dialektische Theorie soziologischer werden. Aber wäre sie dann noch Dialektik?
Die von der Autorin im Titel gestellte Frage wäre so zu beantworten: Die Soziologie will von der Dialektik nichts wissen, denn sie sieht in ihr eine Wirklichkeitsbetrachtung, die entweder philosophisch-naiv überkommen sei (‚Metaphysik’) oder die mit einem Schema politischer Interessen vorgehe (‚Ideologie’). Aber Dialektik steckt in der Soziologie drin, sie tritt überall da zutage, wo Soziologie an ihre Grenzen stößt, wo sie sich über ihre konstitutiven Begriffe keine Rechenschaft ablegt. Die Dialektik ist der blinde Fleck der Soziologie – nicht nur in dem Sinne, dass die Soziologie die Dialektik als Werkzeug nicht in Betracht zieht, sondern v.a. dass die Soziologie nicht dort hinschauen kann, wo die Dialektik in ihr selbst sitzt, weil sie dort aufgehängt ist. Wo die Dialektik in der Soziologie sitzt, das kommt bei Kuchler selber vor – aber sie erkennt es nicht: bspw. in dem Verhältnis von Mikro- vs. Makrostruktur und dem von Subjekt zu Subjekt. Eine Soziologie mit Fokus auf den Mikrostrukturen stellt immer wieder fest, dass die Elemente, mit denen sie analytisch operiert, von dem konstituiert werden, was sie qua Ansatz ausschließt: der Makrostruktur - et vice versa. Hier könnte einem aufgehen, dass Dialektik keine beliebige „Sicht“ (81) ist, die man als „theoretische Grundfigur“ (15), als Instrument aus dem geistigen Werkzeugkasten sich aussucht oder nicht, sondern dass an der Sache selber etwas zur Dialektik drängt.
Bei dialektischen Sozialtheorien beklagt Kuchler „das Verschwinden des Subjekt/Subjekt-Verhältnisses“ (3. Kapitel), die Ausblendung von Intersubjektivität zugunsten des Fokus’ auf das übergeordnete Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, „auf eine eigentümliche Totalität“ (115), in der man ausschließlich die „soziologisch höchst unrealistischen Einzelfälle“ (111) „totale Vereinigung“ oder „totalen Antagonismus“ (109) kenne. Aber wieviel Allgemeines, wieviel Geschichte und Gesellschaft stecken nicht nur in der reinen Existenz des freien Individuums und in seiner allgemeinen Form, dem Subjekt, sondern auch in seiner Kategorie? Wie kann man zwei Individuen in einem Intersubjektivitätsverhältnis aufeinander beziehen, ohne sie über ein Allgemeines zu vermitteln, durch das sie als Subjekte gesetzt werden können? Verschwindet in der Soziologie mit der Eskamotierung des Totalitätsbegriffs auch die Möglichkeit, ein umfassendes, sachlich vermitteltes gesellschaftliches Zwangsvverhältnis zu denken, so lässt Kuchler mit einer theoretischen Operation das Problem gesellschaftlicher Freiheit verschwinden, die die Blindheit der Soziologie gut illustriert und Zweifel daran aufkommen lässt, ob es tatsächlich „ungenutzte Kooperationsmöglichkeiten“ (158) gibt. Kuchler setzt Hegels, Marx’ und Adornos Begriff von Freiheit und Autonomie mit einem spezifischen der Soziologie gleich (2. Kapitel) – und damit zwei vollkommen unterschiedliche Sachverhalte. Ging es jenen um die Freiheit des Individuums und um seine Möglichkeit, diese zu realisieren, um sein Verhältnis zum Allgemeinen (und damit zu anderen Individuen), das ihm diese Freiheit gibt und um die Bedingungen der Möglichkeit der Versöhnung mit ihm, so geht es dieser um die Beschreibung der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären in der Moderne. Indem Kuchler diesen Unterschied ausblendet, kann sie die Perspektive der Dialektik auf Versöhnung zu einer Gegnerschaft zu gesellschaftlicher Ausdifferenzierung = Autonomie umbiegen. Wenn man unter Autonomie nichts anderes als „die Abkopplung und Unterbrechung von Zusammenhängen“ (77) versteht, dann braucht man sich mit dem Glück des Individuums, das man mit dem Fokus auf abstrakte Subjekt/Subjekt-Verhältnisse gegen Totalitätstheorien wieder in sein Recht setzen wollte, nicht mehr zu befassen.
BARBARA KUCHLER: Was ist in der Soziologie aus der Dialektik geworden?
Westfälisches Dampfboot, Münster 2005
198 Seiten. Euro 24,90
ISBN 3-89691-606-8