Fabian Kettner

Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der früheren DDR

Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der früheren DDR. Hamburg: Hamburger Edition, 2002, ca. 520 Seiten, € 35,-

Der Untertitel ist irreführend, denn diesem Thema ist mit dem sechsten Kapitel ‚nur’ knapp ein Drittel des Buches gewidmet. Antisemitismus von links, bei allen Wiederholungen und Redundanzen eines der besten Bücher des Jahres, ist mindestens zwei Bücher in einem. Denn nicht nur analysiert Haury vor der Haltung der DDR zu Juden, Antisemitismus und Zionismus die von Marx, SPD im Kaiserreich, Lenin und KPD in der Weimarer Republik, sondern er liefert eine der besten, übersichtlichsten, verständlichsten und klarsten Darstellungen und Analysen der Formen und „Grundstrukturen des antisemitischen Weltbildes“.
Haury geht es um die „genauen Charakteristika, die den modernen Antisemitismus als ein sachlich eigenständiges, zusammengehöriges und zeitlich abgrenzbares Phänomen qualifizieren.“ Dafür konzentriert er sich auf die „Ebene des ideologischen Denksystems“ und entfaltet die „Logik des modernen Antisemitismus“, um dann „Äußerungen sozialistischer und kommunistischer Provenienz zu Juden, Israel und Zionismus auf ihren antisemitischen Gehalt zu prüfen.“
Die „Leistung“ des modernen Antisemitismus besteht in einer umfassenden „Welterklärung“. Die Juden werden „mit der sich krisenhaft durchsetzenden und nur schwer zu durchschauenden kapitalistischen Ökonomie selbst“ identifiziert, deren abstrakte Macht und Abhängigkeitsbeziehungen Finanz & Börse zugeschrieben und dann im Juden personifiziert werden. Sie seien ebenso Träger der kulturellen Moderne, ihrer „Zersetzung“ und „Massenkultur“, beeinflussten Politiker und revolutionäre Bewegungen und steuerten die Presse.

Von Bedeutung ist der Konnex Antisemitismus – Nationalismus. Der Fixpunkt einer nationalen volklichen „Gemeinschaft“ gilt „als axiomatisch vorgegeben“ und wird „fraglos akzeptiert“, ist „somit der Erklärung entrückt“ und bestimmt „sich aus sich selbst heraus“. Einer „Gemeinschaft“ gehöre man nicht durch „Entschluss“, sondern durch „Bestimmung“ an, und sie „muß sich notwendig in einer zentralen Instanz repräsentieren“: Nation und Staat. Volk & Nation müssen permanent stabilisiert werden durch „Inszenierung von Gemeinschaft“, „Naturalisierung und Ethnisierung“ des Kollektivs, „Konstruktion von Nationalgeschichte“, wie durch die „Definition und Ausgrenzung von ‚Anderen’ sowie Markierung von ‚Fremden’“. Nationalismus entsteht „keineswegs erst in Krisenzeiten“, sondern ist „integraler Bestandteil der Konstruktion und Aufrechterhaltung der Gemeinschaftsvorstellungen ‚Volk’ und ‚Nation’.“ Die Identität ist nach Entstehungsgrund und eigener Logik dieser Konstruktion nur negativ zu haben: über die Bestimmung eines Gegenkollektivs.
„Infolge ihres Sozialprofils, ihrer Geschichte und der Vorgeschichte der vormodernen Judenfeindschaft konnte aus ‚den Juden’ ein geradezu ideales ‚nationales’ Feindbild konstruiert werden.“ Die Juden dienen als „Antiprinzip zur ‚nationalen Gemeinschaft’“, bilden keine beliebige andere Nation. Trotz ihrer Zerstreutheit hätten sie die Identität, die einem selber mangelt, seien sie „Muster-Volk“ und „Un-Volk“ zugleich.

Auf dieser analytischen Grundlage kann Haury den Antisemitismus nicht nur scharf und genau vom Rassismus trennen, sondern entweder ihn selber auch in anderen ideologischen Formationen wiedererkennen oder zumindest „augenfällige Affinitäten zu den Grundprinzipien des antisemitischen Denkens“. Haury geht es um einen „Antisemitismus ohne Antisemiten“, „der sich selbst gar nicht mehr als solcher begreifen kann oder bekennen will.“ Anhand der „drei den Antisemitismus charakterisierenden Ebenen“ – Grundinhalte, Verbindung mit dem Nationalismus, spezifische Denkstrukturen (Manichäismus, Verschwörungstheorie & Personifizierung, Verkehrung von Täter und Opfer) – kann entschieden werden, „ob oder ab wann eine ideologische Artikulation als antisemitisch zu klassifizieren ist.“ Damit kann man „zwischen dem Auftreten einzelner Stereotype und einer geschlossenen Ideologie“ unterscheiden, und v.a. einschätzen, worauf einzelne Denkmuster hinauslaufen können und wo sie immer wieder landen.

In den von Haury im weiteren untersuchten Abschnitten linker Theorie & Praxis finden sich derlei Stereotype zuhauf – in Karl Marx’ Schrift »Zur Judenfrage«, seit Edmund Silberner der Grundtext der „antisemitischen Tradition des modernen Sozialismus“, hingegen nicht. Haury bringt die Forschung auf den neuesten Stand, korrigiert Fehlinterpretationen und weist in einer intensiven Textexegese nach, dass »Zur Judenfrage« trotz der Verwendung typischer antisemitischer Klischees und trotz der Marxschen Reduktion des Kapitalverhältnisses auf die Zirkulation keinen Antisemitismus birgt, noch dass dieser irgendeinen Einfluss auf Theorie und Politik der Arbeiterbewegung gehabt haben kann. Denn die las Marx meistens nicht, auch »Das Kapital« nicht, und wenn doch, dann falsch; und deswegen geriet sie mit ihrer Mischung aus Marx-Engelsscher Diktion und Alltagsverstand schnell in die Fahrwasser antisemitischer Stereotype.
In Haurys Buch findet sich viel Material über „strukturellen“ wie „tendentiellen“ linken und expliziten, notdürftig mit Klassenkampf-Vokabular verbrämten Antisemitismus. Wer die Herkunft linker dummer Slogans und schlechter Selbstverständlichkeiten herausfinden will, möge nachlesen; wer einen Begriff von Antisemitismus entwickeln und anhand diesem sein linkes Weltbild überprüfen möchte, erst recht. Es lohnt sich.