Ingo Elbe

Francis Wheen, Karl Marx

Menscheln mit Marx

Bemerkungen über die freundliche Entsorgung der Marxschen Theorie

Der britische Journalist Francis Wheen hat eine Biographie über Karl Marx geschrieben und selbst das deutsche Feuilleton zeigt sich begeistert: "Das Vergnügen an Marx hat plötzlich wieder eine Chance", teilt uns beispielsweise die ’Berliner Morgenpost’ mit. Endlich sei den "Teilnehmern der Spaßgesellschaft" wieder "Lust auf Karl Marx" gemacht worden. Mit flauem Magen widmen wir uns also dem derart gelobten Werk.

In der Tat schildert Wheen Marx’ Leben auf durchaus unterhaltsame Weise. Er zeichnet das Bild eines von den Kräften der Reaktion über den halben Kontinent bis ins endgültige Exil nach London gejagten politischen Flüchtlings, der vom eher zurückgezogen lebenden, ebenso radikalen wie genialen Denker und zwangsweise Journalisten, nach 1871, dem Jahr des Aufstiegs und Falls der Pariser Kommune, zum meistgehassten und verleumdeten Revolutionär Europas avancierte, ohne dass sein theoretisches Werk von Gegnern wie Anhängern zur Kenntnis genommen worden wäre. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem zuteil, was Wheen "den Menschen Marx" nennt, einem von politischen Auseinandersetzungen, ständigem ökonomischen Elend und Krankheiten geprägten Exilantendasein. Die distanzierte und ironisch gebrochene Sympathie mit der Wheen Marx begegnet, ermöglicht das Verständnis uns heute vielleicht befremdlich erscheinender Verhaltensweisen, wie z.B. der ökonomisch ruinösen Simulation eines gehobenen bürgerlichen Lebensstils oder unzähliger Satisfaktionsforderungen. Mit seiner Haltung unterscheidet sich Wheen noch in der Darstellung persönlicher ’Verfehlungen’ Marx’, wie überscharfer Verurteilungen politischer Gegner oder des inzwischen allbekannten Seitensprungs mit Haushälterin Helene Demuth, wohltuend von tendenziösen Machwerken sei es empörter Gefühlslinker, sei es reaktionärer Teppichbeißer oder auch von Zentralkomitees beauftragter Heiligsprecher. Wheen beschönigt dabei nichts, gesteht aber dem "Menschen Marx" Schwächen und vor allem Zeitgebundenheit zu und lässt auch etwas von dem oft genialen, wenn auch meist rauhen Humor des Denkers erahnen.

Dennoch ist man nach der Lektüre eher um viele Anekdoten reicher, als um einen Deut klüger. Die Unterhaltung, die Wheen uns bietet — und die von seinen KollegInnen in der bürgerlichen Presse so gepriesen wird — ist höchst verdächtig, sie hat viel mit jenem Amüsement gemein, von dem Adorno zu sagen pflegte, die Befreiung, die es verspreche, sei die "von Denken als von Negation."

Zwar scheint das Vorwort der Biographie einiges zu versprechen, so wenn Marx gegen die Verleumdung in Schutz genommen wird, er sei der geistige Ziehvater des GULAG, oder die Bedeutung des Marxschen Werks für das 21. Jahrhundert betont wird. Bis auf den nichtssagenden, weil nicht weiter ausgeführten, Gemeinplatz, Marx habe schon in den 1840er Jahren die Globalisierung des Kapitalverhältnisses prognostiziert, findet sich aber auf den gesamten 511 Seiten weder gegen erstere noch für letztere auch nur ein einziges Argument. Man erfährt buchstäblich nichts über Marx’ Kritik der Formen des gesellschaftlichen Reichtums (Ware, Geld, Kapital, Recht und Staat), nichts darüber, dass erst seine Theorie diese als nur scheinbar naturgegebene Tatsachen dechiffriert und damit der menschlichen Gestaltungs- und Veränderungskompetenz zugänglich macht. Allenfalls, dass die Logik des Kapitalismus "absurd" sei, ist zu vernehmen, nicht warum und wieso. Wenigstens dem Unsinn, Marx vertrete in seinem Hauptwerk eine absolute Verelendungstheorie, tritt Wheen inhaltlich entschieden entgegen. Über das ’Kapital’ werden ansonsten bloß literaturtheoretische Bemerkungen gemacht. Das Problem entscheidender Differenzen zwischen Marx und Engels in Fragen der Ökonomiekritik bleibt völlig unberücksichtigt, obwohl gerade der ansonsten für die Darstellung noch der peinlichsten Intimangelegenheiten (ich sage nur: Furunkel am Penis) ausgeschlachtete Briefwechsel einiges dafür hergeben könnte. Noch die Enttäuschung des "Esels" (wie Engels ihn daraufhin nannte) Liebknecht über Marx’ 1859 erschienene Schrift "Zur Kritik der politischen Ökonomie" scheint unser Autor zu teilen (S. 282f.). Wie der Agitator der deutschen Sozialdemokratie vermag er mit Marx’ Werttheorie nicht wirklich etwas anzufangen. Über Dialektik kann uns gar, so Wheen, "jedes Schulkind, das mit Magneten spielt, oder jede Kontaktbörse" aufklären. Wer mit ’Erklärungen’ derart infantil daherkommt, darf sich nicht wundern, dass er in den naturalistischen Deutungsmustern des ML-Steinzeitmarxismus befangen bleibt oder wie ein Mozart-Biograph erscheint, der keine Noten lesen kann (so Thomas Kuczinski über Wheen).

Selbst Marx’ i.e.S. ’politisch-praktische’ und vor allem revolutionstheoretische Überlegungen, Fehleinschätzungen und Lernprozesse bleiben nahezu vollständig unthematisiert. Kein Wort daher z.B. über die Rücknahme der unilinearen Entwicklungsperspektive ’Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus’ in den Briefen aus den 1870er Jahren. Viele Konflikte werden einfach auf die Ebene persönlicher Zwiste heruntergekocht, selbst Wheens völlig berechtigte Verteidigung der harschen Marxschen Verurteilungen Lassalles und Bakunins schwebt theoretisch weitgehend in der Luft und wird dadurch umso angreifbarer.

Nach der Lektüre will immer noch nicht so recht einleuchten, warum Wheen das Buch überhaupt geschrieben hat, Marx überhaupt für wichtig und aktuell hält. Klar wird allerdings, dass er einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Marx’ Werk einen Bärendienst erwiesen hat, was sogar das deutschsprachige Feuilleton geflissentlich, ja insgeheim befriedigt bemerkt, um sogleich die theoretische Leerstelle eifrig mit dem üblichen Rezeptionsschutt der Herren Nolte, Furet und Glucksmann aufzufüllen. Auffällig nur, dass es dabei, ähnlich wie Wheen, nur mit umgekehrten Vorzeichen, keines vernünftigen Arguments mächtig scheint.

Francis Wheen, Karl Marx, München 2002 (Goldmann)

(zuerst veröffentlicht in: BSZ Nr. 529)