Gerhard Scheit
Hannah Arendts ungewollte Beiträge zur Kritischen Theorie
Es gibt keinen anderen Weg für die politische Urteilskraft wie für die kritische Theorie, als intransigent die Freiheit des Individuums und die „Naturgesetze“ der Gesellschaft gegeneinander zu halten. Unvermeidlich fast, daß dabei der Akzent auf der einen oder der anderen Seite gesetzt wird – wobei gerade die unterschiedliche Akzentuierung bei derselben Sache die größte Feindschaft begründen kann. Letzteres scheint in den Beziehungen Hannah Arendts zu Adorno und zur kritischen Theorie der Fall gewesen zu sein. Keineswegs aber hat sich Arendt über die Antinomie Kants einfach hinweggesetzt und etwa nur die Freiheit eingeklagt, als sie sich gegen Hegel, Marx und Freud wandte und die kritische Theorie, die ihr doch in mancher Hinsicht nahestand, absichtsvoll mißachtete. Ihr Projekt – von den Ursprüngen und Elementen totaler Herrschaft bis zum Leben des Geistes – war die Politisierung der Urteilskraft: „Die Urteilskraft ist das politische Vermögen par excellance. Weil sie es immer mit Partikularem zu tun hat – allerdings nach Kant im Hinblick auf ein vorgegebenes Allgemeines – Regel oder Begriff.“ Das Partikulare nicht dem Allgemeinen zu opfern, bestimmt auch Arendts Begriff des Politischen, und das Partikulare meint nun zuallererst den Leib des Individuums. Das ist es, was sie von Heideggers Denken trennen sollte, ohne dass sie sich dessen recht bewusst wurde.
Gerhard Scheit, freier Autor und Publizist aus Wien. Mitherausgeber der Jean Améry Werkausgabe. Veröffentlichungen u.a.: Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg 2004; Der Wahn vom Weltsouverän. Zur Kritik des Völkerrechts, Freiburg 2009