Gruppe Slatan Dudow
FILM: Der stumme Zwang
„Nichts ist fürchterlicher, als alle Tage von morgens bis abends etwas tun zu müssen, das einem widerstrebt.“ (Friedrich Engels)
Ein Leben ohne Arbeit scheint heute den meisten Menschen unvorstellbar. Und obwohl sich die wenigsten freuen, wenn sie der Wecker morgens um fünf aus dem Schlaf reißt, nicht einmal wünschenswert. In einer Welt, in der es, wie Marx formuliert, kein Glück ist, ein produktiver Arbeiter zu sein, sondern ein Pech, ist es ein noch größeres Unglück, nicht als unmittelbares Verwertungsmittel des Kapitals fungieren zu dürfen. Dabei erwartet diejenigen, die einen bekommen, an ihrem Arbeitsplatz – von dem, wie jedem jeder versichert, weil keiner es im Grunde glauben mag, alles Wohl und Wehe abhängt und um den sie daher in ständiger Sorge sind – in der Regel nur drückende Langeweile, selbst wenn sie, was unwahrscheinlich ist, von launischen Chefs und mobbenden Kolleginnen verschont bleiben. Der Großteil der Tätigkeiten, die in der heutigen Arbeitswelt anfallen, all die Kundentelefonate, Fließbandhandgriffe, das Erstellen von Texten, Akten, Listen und Dateien, die selbstherrliche Dirigierung und sklavische Wartung des Maschinenparks, der längst der eigentliche mit Willen begabte Teil dieser eigentümlichen Beziehung von „toter“ und „lebender“ Arbeit zu sein scheint, könnten genauso gut von dressierten Affen und halbwegs begabten Papageien verrichtet werden. Entsprechend sind die Resultate dieser anstrengenden und angestrengten kollektiven Kopf- und Handarbeit schon Rubbish, noch bevor sie tatsächlich als Wertstoffträger, also als Müll, recycelt werden.
Um das Nachdenken darüber abzuwehren, wie eine Gesellschaft eingerichtet sein könnte, in der „die Arbeit beseitigt“ (Marx) und das Glück Sinn und Zweck des menschlichen Lebens ist und nicht das geringere Übel, hat man als Gegenbild das von den Tauben ersonnen, die einem gebraten in den Mund fliegen, ein Bild, das zugegeben ebenso idiotisch ist wie die Vorstellung, es könne einem ein Vogel in den Mund fliegen, unappetitlich. Gefaßt als zweckbestimmte Tätigkeit zur Vermittlung des Stoffwechsels zwischen Natur und Mensch ist ‚Arbeit’ tatsächlich „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung, ewige Naturnotwendigkeit“ (Marx) menschlichen Daseins. Nur taugt der Begriff in dieser Abstraktheit wenig. Strenggenommen müßte man dann quasi jede Lebensäußerung des Menschen als ‚Arbeit’ bezeichnen, wobei die wenigstens uns dies tun würden, wenn sie atmen, im Restaurant einen Tisch bestellen, einen Geburtstagskuchen backen, die Zähne putzen oder einander lieben. Tatsächlich ist, wie Marx in den Grundrissen ausführt, das praktische Wahrwerden der Abstraktion der Kategorie ‚Arbeit’‚ Arbeit sans phrase’, Produkt erst der modernen bürgerlichen Gesellschaft – und also wie diese selbst theoretisch abschaffbar, praktisch abzuschaffen und durch ein „universelles Produzieren“ „nach den Gesetzen der Schönheit“ zu ersetzen.
Dafür, also für eine von Mühsal und Plackerei befreite Gesellschaft, Bilder zu finden, ohne in den Kitsch zu verfallen, würde sich auch dann schwierig gestalten, wenn es mehr Filmemacher versuchten. Doch vielleicht, weil niemand auch noch in den spärlichen Stunden nach Feierabend mit Erinnerungen an die Tretmühle behelligt werden mag, vielleicht, weil er ein hochideologisiertes (und wenn nicht durch äußere, dann durch noch stärkere interne Zensur gebändigtes) Produkt der Kulturindustrie ist, vielleicht auch, weil ihm als kollektiven Tagtraum ein utopisches Moment innewohnt, spart der konventionelle Spielfilm aus Hollyberg und Babelswood nicht erst ihre Abschaffung, sondern schon die Arbeitswelt selbst weitgehend aus – jedenfalls wenn man von den Berufen absieht, die wie Detektiv, Kommissar, Bankräuber, Cowboy, Arzt, Soldat oder Raumfahrer besonders zur Heroisierung taugen (aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund gelten auch Richter und Anwälte für sexy) und eine intakte bürgerlicher Subjektivität vorgaukeln, die im wirklichen Leben längst passé ist, sofern es sie überhaupt jemals gegeben hat.
Der stumme Zwang der Gruppe Slatan Dudow – Filme gegen Deutschland, eines Berliner Studentenfilmkollektivs, sowie L’an 2001 (Das Jahr 01) von Jacques Doillon, zählen hier zu den seltenen Ausnahmen.
Während Der stumme Zwang, ein surrealistischer, kafkaesker Kurzfilm, allegorisch den internalisierten Zwang, der die Menschen zur Arbeit treibt, beschreibt, entwirft L’an 2001 das utopische Modell einer Gesellschaft, in der diese von einem Tag auf dem anderen damit aufhören und ausschließlich tun, wozu sie Lust haben.
Erst ein böser, düsterer Film über die gesellschaftliche Gegenwart und dann ein verspielter, lichterer über ihre Zukunft: dies sollte alle interessieren, die geneigt sind, sich der Auffassung anzuschließen, daß „die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Art gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ (Marx)
Der stumme Zwang (BRD 2008, s/w, 16 mm, 13 min, Produktion: Tobias Ebbrecht, Regie & Buch: Bernd Reinink, Kamera: Björn Bethke, Musik: Hannes Hüfken, Darstellerinnen: Lena Müller, Renate Serwotke, Esther Esche u.a)
L’an 01 (Das Jahr Null Eins, Frankreich 1972, s/w, 90 min, Produktion: U.Z., Regie: Jacques Doillon, Alain Resnais, Jean Rouch u.a., Buch: Gébé, Kamera: Renan Pollès, Musik: Francois Béranger, Jean-Marie Dusuzeau, Darsteller: Cavanna, Henri Guybert, Jacques Higelin, Romain Bouteille, Gérard Depardieu, Miou-Miou u.a.)