Fabian Kettner

Martin Doerry: „Mein verwundetes Herz.“ Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944

Fabian Kettner

The House we live in

Biographien von KZ- und Vernichtungslager-Überlebenden gibt es viele, aber sie haben allesamt Ausnahmecharakter. Denn dass sie geschrieben werden konnten, hatte zur Voraussetzung, was nur einem verschwindend geringen Bruchteil gelang: dem verfügten Tod zu entgehen. Auch wenn sie nicht wie Wieslaw Kielars Anus Mundi nahezu an Aufenthalte in kruden Ferienlagern, nur halt mit derben Prügelstrafen, erinnern, so kranken daran doch alle Berichte, auch empfehlenswerte wie bspw. Rudolf Vrbas Als Kanada in Auschwitz lag (aka Ich kann nicht vergeben), der fliehen oder Ruth Klügers weiter leben, Primo Levis Ist das ein Mensch? und Tadeusz Borowskis Bei uns in Auschwitz, die bis zur Befreiung ‚überleben’ konnten. Lilli Jahn überlebte nicht. Ihre Geschichte trägt einen Titel wie von Rosamunde Pilcher, der Umschlag mit Bild ist in Sepia getaucht, die Farbe, an der sich die Deutschen nicht stattsehen können, weil es nach SA und früher aussieht, so wenig wie an Hitler-Bildern auf den Titelseiten der Zeitschrift, bei der Doerry stellv. Chefredakteur ist. Ihre Geschichte kann trotzdem erzählt werden, weil ihre Kinder hunderte von Briefen von sich und ihrer Mutter aufbewahrten, die deren Enkel Doerry, beileibe kein Literat oder Stilist, zusammenstellte und zurückhaltend textlich verband.
Lilli Jahn, 1900 geboren, stammte aus einer bürgerlichen Familie. Sie betonte, dass sie Jüdin „immer ganz bewußt bleiben würde“, war aber stark assimiliert, kulturell interessiert wie versiert und auch als Frau emanzipiert, studierte Medizin und praktizierte als Ärztin. 1923 lernte sie den Nichtjuden Ernst Jahn kennen, den sie im August 1926 mit jüdischer Zeremonie heiratete und zu dem sie in die hessische Kleinstadt Immenhausen zog. Beide betrieben eine Praxis und zwischen 1927-40 bekamen sie fünf Kinder.
Von Beginn an wird sie mit dem NS konfrontiert. Zunächst nur indirekt, indem sie die von der SA entführten und gefolterten Linken verarztete, beim sog. Judenboykott jedoch unmittelbar. „Die Immenhausener nahmen es dabei nicht ganz so genau“, kommentiert Doerry lakonisch, dass auch die Praxis ihres arischen Gatten in den Boykott einbezogen wurde. Fortan ist Lilli eine „sehr deprimierte und isolierte“ Frau. Man schaut zu, wie ein Leben über Jahre zuerst zum Verschwinden gebracht, schließlich ausgelöscht wird. Sie darf ihren Beruf nicht mehr ausüben und wenn sie das Haus zum Einkaufen verließ, „blickte sie stets nur zu Boden, um niemanden in die Verlegenheit zu bringen, sie grüßen zu müssen.“ Eine fast unbegründete Sorge, denn die Honoratioren der Stadt mieden die vorher angesehene Familie, Freunde brachen den Kontakt ab. „Im übrigen ist der gesellschaftliche Boykott hier in Immenhausen uns gegenüber von einer ungeahnten Vollkommenheit“, konnte sie bereits Februar 1934 die erfolgreiche Konstitution der deutschen Volksgemeinschaft resümieren. Die anderen jüdischen Familien des Ortes wanderten bis 1937 aus. Die Jahns überstanden das Pogrom vom 09.11.1938 relativ gut, aber die Wohnung ihrer Schwester in Köln wurde vollkommen verwüstet; Schikanen, Terror und die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz trieben ihren Lieblingsonkel in den Selbstmord. „Offenbar schmiedete der wachsende äußere Druck Ernst und Lilli in diesen Jahren enger zusammen“, auch wenn sie im Sommer 1938 bei ihrer Ferienreise lange nach einem Hotel suchen mussten, das sie herablassend aufnahm. Lilli bekam zum 31.12.1938 das große „J“ in ihren Pass gestempelt, musste aber keinen gelben Stern tragen. „Außerhalb unseres Hauses führe ich ja kein Leben mehr“, so Lilli am 23.11.1941, nicht zuletzt wegen der ständigen potentiellen Bedrohung durch die SA, aber „daß die noch hier einzig wohnende Jüdin von hier verschwindet“, so der stellv. Ortsgruppenleiter der NSDAP, Karl Groß, am 20.01.1942 an seinen Vorgesetzten in Hofgeismar, war ein dringendes Anliegen. Man kann nachlesen, was eine Volksgemeinschaft ausmacht. So war jener Groß auch informiert über die Affaire von Gatte Ernst mit einer anderen Ärztin und über die Geburt von deren unehelichem Kind, bei der Lilli geholfen hatte. Dass Ernsts Rita sich von Lilli helfen ließ, war für die Ärztekammer Anlass für eine Rüge.
Als Lilli am 08.10.1942 in die Scheidung einwilligte, verlor sie den Schutz einer „privilegierten Mischehe“. Dezember 1941, Juli und September 1942 ging je ein Transport von Juden ab Kassel in die Gettos und Vernichtungsstätten im Osten, Lilli musste auf Anordnung des Bürgermeisters Groß am 21.07.1943 ‚nur’ mit ihren Kindern nach Kassel umziehen. Auf dem Namensschild der neuen Wohnung hatte Lilli nicht den verordneten Zweitnamen „Sara“, dafür aber ihren Doktor angegeben. Prompt wurde sie bei der Gestapo denunziert und kehrte von der zweiten Vorladung am 30.08.1943 nicht mehr zurück. Sie wurde in das „Arbeitserziehungslager“ Breitenau gebracht, von dem der Fuldaer Landrat rühmte, dass ehemalige Inhaftierte „lieber tot sein wollten, als noch einmal nach Breitenau zu gehen.“ Die Kinder, zwischen 3 und 16 Jahren alt, wurden sich selbst überlassen. Die (bestenfalls) Gleichgültigkeit der Deutschen gegenüber den Leiden der Lilli Jahn, die Doerry immer wieder herausstellt, änderte sich auch gegenüber den Kindern nicht. Erst nachdem sie am 22.10.1943 ausgebombt wurden, nahm der Vater sie wieder auf. Da jener sich jedoch nicht um die Freilassung seiner Ex-Gattin bemühte, wurde das Verhältnis zu seinen Kindern distanziert. Den Kontakt zu ihrer Mutter hielten sie über Briefe. Lilli konnte nur selten zurückschreiben, meist über gefährliche Schmuggelwege. Ihre älteste Tocher sah sie noch zwei Mal, bevor sie am 17.03.1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Alle anderen sahen sie nie wieder, sie verschwand in jenem Nichts, von dem die Deutschen wussten, das sie aber nur „den Osten“ nannten. Von dort kam noch ein Brief, im Oktober 1944 schließlich die Sterbeurkunde des Standesamtes Auschwitz an die Kinder und Lillis Ausweis an die Behörde in Immenhausen. Deutschland hatte einen weiteren „Volksfeind“ zu den Akten gelegt. Bis heute wissen die Kinder nicht, wann und wie genau ihre Mutter starb.

Martin Doerry: „Mein verwundetes Herz.“ Das Leben der Lilli Jahn 1900 – 1944. Stuttgart – München: Deutsche Verlagsanstalt, 2002 ca. 350 Seiten € 24,90