Fabian Kettner

Irina Djassemy: Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno

„Der Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“

Adornos „Arbeiten über Musik, Literatur und Kultur“, so Karl R. Popper, „all das ist wenig nach meinem Geschmack. Für mich lesen sie sich wie Imitationen von Karl Kraus, aber wie schlechte Imitationen, weil ihnen der Kraussche Sinn für Humor abgeht.“ Das, was er gemütvoll „Humor“ nennt und womit er wahrscheinlich meint, dass man Kritik nicht ‚zu verbissen’ und nicht ‚zu negativ’ üben solle, das ging dem „Antijournalisten“ (Thomas Mann) Karl Kraus, diesem „destruktiven Denker par excellence“ (7), bestimmt ab. Seine Rezeption von Vertretern der Kritischen Theorie ist bekannt; von Walter Benjamin, Max Horkheimer und Adorno liegen Arbeiten über Kraus vor, v.a. in Adornos Werk finden sich zahlreiche Bemerkungen und Bezugnahmen auf ihn. In der Studie von Irina Djassemy geht es darüber hinaus, nämlich um die Komplementarität des Denkens von Kraus & Adorno, um deren zentrale „Affinität“ (11).

Da hier und in diesen Tagen von Adorno häufiger die Rede ist, wollen wir uns diesmal auf Karl Kraus konzentrieren. Dieser gab von April 1899 bis Februar 1936 in Wien die Zeitschrift Die Fackel heraus, eine „Anti-Zeitung“ (323), die unregelmäßig und in stark variierendem Umfang erschien und die er ab Juni 1912 alleine schrieb. Hierüber kritisierte er das Kulturleben und die Politik, speziell Wiens, und besonders die Presse. Dabei ging er weiter als die liberale Kritik am Pressewesen; zur Beanstandung ihrer unlauteren Verknüpfung mit ökonomischen und ideologischen Interessen, der Zurichtung von Informationen zu besserer und schnellerer Verwertbarkeit und der Ausblendung und Beschönigung von Realität fügte er die Kritik ihrer „Form“ an sich (228). Ihr instrumenteller Sprachgerauch beeinträchtigt die „Erfahrung am Wort“ (63) und damit die Fähigkeit zu kritischer Urteilsbildung. Erstarrte sprachliche Standards, die spezifische Reaktionen abrufen, lassen das Denken und die Assoziationskraft zur „Meinung“ und zur „Phrase“ gerinnen. Die Darstellung der Ereignisse nimmt die Reaktionen der Rezipienten auf diese vorweg, indem sie sie über ihren eigenen Ausdruck standardisiert.
Djassemy führt umfassend und mit viel Material in das Werk Adornos & Kraus’ ein. Indem sie Sekundärliteratur miteinbezieht und kritisiert, korrigiert sie weitverbreitete Fehlinterpretationen, v.a. aber ermöglicht sie, die geistige Haltung, das Denken und den Kritikbegriff Adornos & Kraus’ nachzuvollziehen. Sorgfältig arbeitet sie heraus, wie deren „Form von Kulturkritik zugleich sich von kulturpessimistischen Positionen abgrenzt“ (171). Sie kritisieren „mißlingende Zivilisation“ (53), nicht Zivilisation per se. Der auch von sonst reflektierten Interpreten erhobene Vorwurf der „Wissenschaftsfeindlichkeit“, „Aufklärungsfeindschaft“ und der Verherrlichung eines verloren geglaubten Ursprungs (Hans Mayer) lässt sich ebenso bei Kraus’ Technikkritik nicht halten (110ff.).

Zwar bezeichnet Djassemy Die Fackel als „Gegenwelt“ (344), aber anders als George und Rilke flüchtete Kraus nicht „in einen scheinbar zeitfernen Ästhetizismus“ (250). Seine Sprachkritik ist „kein Selbstzweck“ (319). Über sie konnte er „an der Sprachkrise Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ ablesen (58). „Sprache ist, als Medium des Ausdrucks, in den realen gesellschaftlichen Zusammenhang verflochten, spiegelt gesellschaftliche Strukturen wider und unterwirft noch die scheinbar individuellste Regung in gewissem Maße der gesellschaftlichen Objektivität.“ Weil Erkenntnis aus und durch Sprache gewonnen wird, weil es keinen Gedanken ohne seine Versprachlichung gibt, so resümiert Horkheimer, ist „die Erfahrung eines jeden Einzelnen durch die Sprache, in der er sie macht, präformiert.“ Über die Deformation von Sprache konnte Kraus den Stand ideologischer Vergesellschaftung klassifizieren. Die intensivierte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Der Kulturbetrieb der 20er Jahre ist ein „kulturelles Stadium zwischen der traditionellen bürgerlichen Kultur und der formierten Kulturindustrie.“ Kraus musste feststellen, dass diese alles vereinnahmen kann. Er nahm in dieser Zeit „zentrale Bestimmungen von Adornos Kritik der Kulturindustrie vorweg“ (255).
Kraus „erstellt eine umfassende Physiognomie der herrschenden Kultur, um sie in ihrer ganzen Untergangswürdigkeit faßbar zu machen“ (250), aber er stößt „immer dann an eine Grenze, wenn zur eingehenderen Analyse eine Kritik der Gesellschaft vonnöten wäre“ (185). Adorno hatte die „ideologiekritischen Implikationen der in der Fackel geleisteten Kritik soziologisch reformuliert“ (69). Der „Mangel eines theoretischen Fundaments“ (20) verhinderte aber nicht theoretisch vollkommen richtige Einsichten. So lieferte der „politisch konfuse Kraus“ (254) ein bestechend scharfes Bild des autoritären Charakters (404ff.). Während Kraus aber „nur feststellen und verurteilen kann, ist es der Kritischen Theorie vermittels ihrer Kritik der Gesamtgesellschaft erst möglich, die Konstitution des falschen Bewußtseins zu erklären“ (321).
Das große, „komplexe Problem des Krausschen Verhältnisses zum Judentum“ (362), d.h. seine nicht seltenen, typisch antisemitischen Äußerungen, mit denen er, dem Hans Mayer deswegen „jüdischen Selbsthaß“ bescheinigte, „aus dem reichen Fundus der Wahnvorstellungen der Wiener Jahrhundertwende“ schöpfte und mit denen „Kraus seiner Kritik die Spitze abbricht“, indem er „jenem Ressentiment Konzessionen gemacht“ hat (Gerhard Scheit), werden von Djassemy nur zwischendurch behandelt. Zurecht aber macht sie darauf aufmerksam, dass Kraus wie Adorno die Bedeutung im Gegensatz zur Linken früh die Bedeutung der antisemitischen Bewegung erkannten.

Mit dem Nationalsozialismus konfrontiert verstummte Kraus zunächst. „Das Wort entschlief, als jene Welte erwachte“, die „Grenzen der Kulturkritik“ wurden deutlich: wo keine Kultur mehr ist, die Anspruch auf Wahrheit erhebt, wo Rationalität in Dienst des Irrationalismus tritt, da hat Kulturkritik nicht nur durch Gleichschaltung der Öffentlichkeit ihre Sphäre, sondern auch ihren Gegenstand verloren.

IRINA DJASSEMY: Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen + Neumann, 2002. ca. 440 S., € 44,-